Als Marcel Reich-Ranicki vor vier Jahrzehnten die Frankfurter Anthologie begründete, war nicht abzusehen, wie lange dieses Experiment Bestand haben würde. Auch nach vierzig Jahren ist der ewige Vorrat deutscher Poesie keineswegs aufgebraucht. Dennoch ist es an der Zeit für eine Öffnung. So wird sich die Frankfurter Anthologie, die von Oktober 2014 an von Hubert Spiegel betreut wird, künftig der Poesie aus aller Welt widmen: Neben deutschsprachigen Gedichten soll auch fremdsprachige Lyrik behandelt werden, sofern sie in einer angemessenen Übersetzung vorliegt. Die inzwischen annähernd 2000 Gedichte der Frankfurter Anthologie werden auch in einer Buchreihe veröffentlicht.

Frankfurter Anthologie:
Arthur Rimbaud: „Maibanner“

Ein verschwenderisches Angebot namens Poesie: Das schmale Werk dieses Junggenies pulsiert von Aufbruchsfuror, zügelloser Ungeduld und der Lust am eigenen Untergang.

Frankfurter Anthologie:
Hedwig Lachmann: „Unterwegs“

Ein Großstadt-Gedicht mehr, aber eines mit sehr eigenem Akzent: Seine Verfasserin war Muse, Pazifistin, Dichterin und nur im Unterwegssein zuhause.

Frankfurter Anthologie:
Elsa Asenijeff: „Heilige Kräfte“

Auf zum Tempel aller Schmerz- und Lustekstasen: Dieses Gedicht zeigt, wie selbstbewusst und radikal Feminismus um 1900 klingen konnte.

Frankfurter Anthologie:
Iwan Franko: „Es liegt ein Dorf im Tale drin“

Eine Miniaturtragödie in Versen: Dieses Gedicht handelt vom Scheitern der Aufklärung und dem Drama des im eigenen Lande verkannten Propheten.

Frankfurter Anthologie:
Marie T. Martin: „Lösen“

Damit das Herz nicht vor Kummer zerspringt: Ein Gedicht über gelöste Bindungen, schlafende Lektionen und das Licht, das uns die Füße leckt.

Frankfurter Anthologie:
Johann Wolfgang Goethe: „Celebrität“

Bestaunt, begafft, gefeiert: Dieses Gedicht eines Klassikers beleuchtet die Schattenseiten des Ruhms und scheint auf Klassizität zu pfeifen.

Frankfurter Anthologie:
Christine Lavant: „Her mit dem Kelch“

Rauschhaft, dringlich und brillant: Die Poesie dieser großen Dichterin schöpft aus einer Quelle, die so tief ist wie das Leid, das sie bezeugt.

Frankfurter Anthologie:
Michael Buselmeier: „Die Läuterung (2)“

Michael Buselmeier ist endlich wieder ein Dichter, der den hohen Ton anschlägt. Seine Gedichte orientieren sich an Dantes „Göttlicher Komödie“, der Widersprüche aktuell geblieben sind.

Frankfurter Anthologie:
August von Platen: „Das Grab im Busento“

Vor dem wohl übelsten literarischen Shitstorm des neunzehnten Jahrhunderts floh August von Platen ins italienische Exil. Seine präzisen Verse sind ein Meisterwerk erzählender Dichtkunst.

Frankfurter Anthologie:
Peter Rühmkorf: „Von mir – zu euch – für uns“

Mitte der Siebziger war Peter Rühmkorf von Zweifeln geplagt. Zehn Jahre lang konnte er keine Gedichte schreiben, bis er sich in der Begegnung mit einem mittelalterlichem Lyriker wiederfindet.

Frankfurter Anthologie:
Sylvia Plath: „Morgenlied“

Warum gibt es so viel mehr Gedichte über den Tod als über den Beginn des Lebens? Man überlässt diesen Vorgang den seltenen dichtenden Müttern wie Sylvia Plath.

Frankfurter Anthologie:
Sascha Anderson: „testbilder“

Sascha Andersons Gedicht, das auf einer sowjetischen Geschichte beruht, erschien bislang nicht im Druck. Der Dichter nutzte sein „Übungsstück“ gerne auf Lesungen.

Frankfurter Anthologie:
Christoph Meckel: „Augen“

Welche geheimnisvolle Kraft geht von den Augen aus? Christoph Meckel erkundet mit seinen Versen die vielfältigen Möglichkeiten des Sehens.

Frankfurter Anthologie:
C. F. Gellert: „Der alte Dichter und der junge Critikus“

Müssen sich die Jungen den Respekt erst verdienen, bevor sie die Alten kritisieren dürfen? Christian Fürchtegott Gellerts Verse aus dem Jahr 1754 demonstrieren die Zeitlosigkeit dieser Frage.

Frankfurter Anthologie:
Matthew Sweeney: „Hund und Mond“

Die Gedichte des irischen Schriftstellers Matthew Sweeney sind witzig und ernst zugleich. Seine Geschichten lösen Altbekanntes von der Realität und erweitern damit unsere Vorstellungskraft.

Frankfurter Anthologie:
Nelly Sachs: „Der Marionettenspieler“

Wer ist der unbekannte Marionettenspieler im Gedicht von Nelly Sachs? Im Gegensatz zu anderen Elegien hat die Autorin diese Verse nicht weiter erläutert.

Frankfurter Anthologie:
Tomas Tranströmer: „April und Schweigen“

Das trübe Naturgedicht des schwedischen Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer bleibt so rätselhaft – man muss es immer wieder lesen.

Frankfurter Anthologie:
Emmy Ball-Hennings: „Ätherstrophen“

Im Rausch kommt die Schauspielerin und Dichtermuse Emmy Ball-Hennings der Antwort auf die Frage nach der eigenen Existenz am nächsten. Ihre Verse passen dazu.

Frankfurter Anthologie:
Adam Zagajewski: „Wettbewerb“

Wie geht man mit dem eigenen Scheitern um? In diesen Versen versucht eine Mutter, den Beinahe-Gewinn eines vergangenen Wettbewerbs in einen echten zu verwandeln. Die Jury besteht aus den eigenen Kindern.

Frankfurter Anthologie:
Pia Tafdrup: „Magische Aussicht“

Wie kann man den Abschied von einem geliebten Menschen in Sprache verwandeln und zugleich die Erinnerung an ihn festhalten? Pia Tafdrup gelingt es mit diesen Versen an Ihren Vater.

Frankfurter Anthologie:
Günter Herburger: „Belle de Jour“

Trotz seines Berserkertums landete dieser Dichter immer wieder auf seinen Füßen. In diesen Versen geht die bürgerliche Gesellschaft unter und gibt den Blick frei auf das, was bleibt.

Frankfurter Anthologie:
Arne Rautenberg: „du denkst“

Der Schriftsteller und Künstler Arne Rautenberg interpretiert ein Kurzgedicht von sich selbst – und gibt Einblick in seinen lyrischen Schaffensprozess.

Frankfurter Anthologie:
Mirko Bonné: „Changning“

Mirko Bonné nähert die Form seines Gedichts konsequent seinem Inhalt an. Namen, Versgruppen und Leerzeilen richten sich nach dem Aufbau eines Parks in Shanghai.

Frankfurter Anthologie:
Thomas Kunst: „Ich bau in meinem Waschbecken Venedig“

Mit einem Stipendium des Deutschen Studienzentrums dürfen Künstler drei Monate lang in einem venezianischen Palazzo leben. Der Dichter und Prosaautor Thomas Kunst scheitert auf poetische Weise an der Serenissima.

Frankfurter Anthologie:
Czesław Miłosz: „Aus dem Fenster“

Der aus Litauen stammende Dichter Czesław Miłosz arbeitete im Warschauer Untergrund gegen die deutsche Besatzung. Inmitten der Grauen entwarf er scheinbar naive Verse, die an die eigene Kindheit erinnern.

Frankfurter Anthologie:
Paul Fleming: „Gedanken, über der Zeit“

Das Gedicht wurde erstmals als Grabgedicht für eine jung verstorbene Frau veröffentlicht. Die Verse von Arzt und Lyriker Paul Fleming fügen dem barocken Topos des Gegensatzes von Zeit und Ewigkeit einen eigenen Akzent hinzu.

Frankfurter Anthologie:
Geoffrey Hill: „Die Apostel: Versailles, 1919“

Die Stimme des vor drei Jahren verstorbenen englischen Lyrikers Geoffrey Hill wird in den Zeiten des Brexits schmerzlich vermisst. Seine Zeilen zum Frieden von Versailles zeigen einen satirischen Blick auf die Geschichte.

Frankfurter Anthologie:
Ingeborg Bachmann: „Reigen“

Als Bachmann diese Verse schrieb war sie 27 Jahre alt und gerade mit dem Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet worden. Mit ihrer innovativen Weise poetischen Sprechens möchte sie die Zukunft prägen.

Frankfurter Anthologie:
Jürgen Becker: „Fragment aus Arnstadt“

Im Jahr der Wiedervereinigung ist Büchner-Preisträger Jürgen Becker nach Erfurt gefahren. Mit nüchternen Versen beschreibt er seine alte Heimat.

Frankfurter Anthologie:
Gotthold Ephraim Lessing: „Eine Gesundheit“

Für seine weinselige Lyrik wurde Lessing nicht berühmt. Doch hinter diesem Trinklied steckt auch eine politische Dimension.

Frankfurter Anthologie:
Charles d’Orléans: „Im Wald des Langen Wartens“

Der Autor dieser Verse ist einer der berühmtesten Gefangenen der Weltgeschichte. Er dichtete, um nicht wahnsinnig zu werden – und stellt sich hier seinem größten Feind.

Frankfurter Anthologie:
Walt Whitman: „Kosmos“

Walt Whitman, Amerikas größter Hymniker, der vor 200 Jahren geboren wurde, war ein Bewunderer Alexander von Humboldts. In diesem Gedicht ist der Einfluss deutlich spürbar.