Frankfurter Anthologie :
Hedwig Lachmann: „Unterwegs“

Von Rüdiger Görner
Lesezeit: 3 Min.
Ein Großstadt-Gedicht mehr, aber eines mit sehr eigenem Akzent: Seine Verfasserin war Muse, Pazifistin, Dichterin und nur im Unterwegssein zuhause.

Man glaubt, sie zu kennen, und kennt sie doch nicht, diese Lyrikerin von Geblüt und eine bedeutende Übersetzerin dazu: aus dem Englischen (Edgar Allan Poe und immer wieder Oscar Wilde), Ungarischen und Französischen. Eine Symbolistin, die Dante Gabriel Rossetti, Charles Swin­burne und Paul Verlaine übertrug, eine Muse und zeitweise Geliebte Richard Dehmels, die zur Pazifistin und Expressionistin wurde und zur zweiten Frau des Sozialisten Gustav Landauer, der Kultur in Anarchie wurzeln sah: Hedwig Lachmann (1865 bis 1918). Sie querte alle eingefahrenen Gleise und überschritt mit Vorliebe Schwellen und Grenzen, lebte mit Landauer für ein Jahr in London in Tuchfühlung mit dem russischen Anarchisten Peter Kropotkin und blieb doch im Bannkreis von Oscar Wildes elitärer Ästhetik.

Landauer besorgte noch die Herausgabe der Gedichte seiner 1918 an Lungenentzündung verstorbenen Frau unter dem Titel „Gesammelte Gedichte. Eigenes und Nachdichtungen“, bevor Freikorps-Soldaten ihn im Mai 1919 ermordeten, einer der frühen unter den vielen politischen Morden in der Weimarer Republik.

Wandern in der großen Stadt

Ein Großstadt-Gedicht mehr, aber anders, mit einem sehr eigenen Akzent; es kommt so ganz ohne expressive Überzeichnungen aus, ohne markante Symbole, die erkennen lassen könnten, ob eine konkrete Stadt gemeint ist. Dieses Ich „wandert“ durch die Stadt, so wie man durch Wald und Feld, eben durch eine Landschaft, wandern würde. Aber dieses Wandern geschieht unter Ausschluss der Natur, an die nur noch der Nebel erinnert. Dieses Wandern in der großen Stadt bedeutet ein unweigerliches Unstet-Werden des Ichs, das nicht flaniert, nicht von Verabredung zu Verabredung hastet.

Die „Herbstnebelschleier“ wehen eher jahreszeitenlos um die Hochhäuser, die „Zinnen“ einer befremdlichen Moderne, auf eine aus der Zeit gefallene Burganlage anspielend. Das Schwirren und Brausen, weniger das Flattern, verweist zwar auf urbane Betriebsamkeit, gespiegelt auch in den unregelmäßigen Rhythmen der Verse, aber sie scheint allenfalls äußerer Anlass für das Fremdheitsempfinden dieses Ichs. Nur im Unterwegssein ist es zu Hause. Doch etwas schlägt in diesem Ich um: Die Beobachtung des urbanen Lebens irgendwo im Überall verwandelt sich in Introspektion. Aus den „Vielen“ schält sich eine Ich-du-Beziehung eigener Art heraus. Und das geschieht in dem Moment, als das Ich zu mutmaßen beginnt, ob wenigstens einige dieser Vielen dessen seelische Nöte teilen. Dieses Ich hofft auf verschwiegene Sympathie, so unwahrscheinlich dies auch anmutet.

Die letzte Strophe gilt dem Ausloten dieser Beziehung, deren Tiefen unergründlich scheinen. Zumindest deklariert das Ich sie auf diese Weise. „Kein Blitz“, keine Naturerscheinung vermag dieses Ich-du-Verhältnis zu klären. Und gäbe es dieses eine erklärende, erhellende Wort, das ja oft „wie ein Blitz“ einschlagen kann, es würde sich auflösen, indem beide es aussprechen. Ernüchternder kann eine Ich-du-Beziehung nicht über sich befinden als in diesem letzten Vers. Das blutende Herz, der tropfende Nebel – sie sagen mehr als analytische Worte.

„Flattern“, „Zinnen“, das einsame Zurückbleiben, obgleich dieses Ich weiterwandert – man glaubt, diese Motive zu kennen. Kennt man sie wirklich? Sie er­innern an Droste-Hülshoff, nur dass diese sogar ihr Haar im Wind, wild, mänadenhaft, flattern ließ auf den Zinnen ihrer Meersburg. Vielleicht ist etwas von dieser kleinstädtischen Szene in jeder großen Stadt mit enthalten und etwas von Drostes still-rebellischem Ich in den vielen Ein­samen, die in der städtischen Anonymität zu ersticken drohen.

Hediwg Lachmann: „Unterwegs“

Ich wandre in der großen Stadt. Ein trüber
Herbstnebelschleier flattert um die Zinnen,
Das Tagwerk schwirrt und braust vor meinen Sinnen,
Und tausend Menschen gehen an mir vorüber.

Ich kenn sie nicht. Wer sind die Vielen? Tragen
Sie in der Brust ein Los wie meins? Und blutet
Ihr Herz vielleicht, von mir so unvermutet,
Als ihnen fremd ist meines Herzens Schlagen?

Der Nebel tropft. Wir alle wandern, wandern.
Von dir zu mir erhellt kein Blitz die Tiefen.
Und wenn wir uns das Wort entgegenriefen –
Es stirbt im Wind und keiner weiß vom andern.