Doku auf Arte :
Was die Leica mit den Nazis zu tun hatte

Von Heike Hupertz
Lesezeit: 4 Min.
Leica-Fan: Der Rabbiner Frank Dabba Smith
Die Doku „Die Nazis, der Rabbi und die Kamera“ erzählt die Geschichte des Unternehmers Ernst Leitz II. Sein berühmter Fotoapparat half den Nazis bei der Propaganda, während er selbst Menschen rettete.

Von 1924 an wird mit der seriell gefertigten, handlichen Leica-Kamera des Unternehmens Leitz in Wetzlar das Fotografieren in vorher undenkbaren Situationen möglich. Etwa beim Bergsteigen, bei Expeditionen, im Alltag – und im Krieg. Eine Revolution der Technik, die unser Bild der jüngeren Geschichte entscheidend mitprägt.

„Fotografinnen und Fotografen aus aller Welt machen nun Bilder, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählen“, so heißt es im Off-Kommentar der sehenswerten Dokumentation „Die Nazis, der Rabbi und die Kamera“. Es entstehen Bilder, die auch ihre Fotografen berühmt machen, beispielsweise Henri Cartier-Bresson. Im „Leitz-Park“ in Wetzlar hängt in der „Leica – Hall of Fame“ eine Auswahl der berühmtesten Motive. Neben Porträts von James Dean, Che Guevara und Muhammad Ali sieht man Cartier-Bressons Straßenszenen. Oder das Foto des nackten, schwer verletzten Mädchens in Vietnam, das zum Symbol der schreienden Anklage gegen Krieg geworden ist. Alte Leicas erzielen bei Versteigerungen Höchstpreise. Am 11. Juni 2022 wird der Leica-Prototyp des Leitz-Tüftlers Oskar Barnack für zwölf Millionen Euro versteigert.

Am Beispiel des Unternehmens Leitz und seines Besitzers Ernst Leitz II lässt sich aber mehr erzählen als Technikgeschichte, Erfindergeistfaszination und deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ernst Leitz II, so zeigt es der Film, hätte als Unterstützer und Retter zahlreicher Juden und politisch Verfolgter während des Naziregimes Geschichte schreiben können wie Oskar Schindler, wenn auch in kleinerem Maßstab, gleichsam parallel zu seinem berühmtesten auratischen Erzeugnis und dessen Bildern.

Ernst Leitz II schwieg, so erzählt es sein Urenkel Oliver Nass, so berichtet es vor allem aber der New Yorker Rabbi und Fotograf Frank Dabba Smith, der Leitz’ Wirken zwanzig Jahre lang erforscht hat. Er schwieg, im Gegensatz zu vielen anderen, die sich nach der Befreiung durch die Alliierten gern nachträglich als Gegner des Naziregimes darstellen wollten.

Eine Unternehmergeschichte

Der Dokumentarfilm von Claus Bredenbrock, der mit einer dreiviertel Stunde zu kurz ist, um all seinen Fährten bis ins plastische Detail folgen zu können, beginnt mit Szenen, die in vielen Unternehmensgeschichten mit brauner Färbung eine Rolle spielen und die hier weniger als die Hälfte der Wahrheit sind.

Es geht los mit dem 1. März 1941. Zum 70. Geburtstag des Patriarchen Ernst Leitz II spielt die werkseigene Kapelle in NS-Uniformen am Stammsitz Haus Friedwart in Wetzlar. Goebbels und Göring schicken Telegramme mit Grußbotschaften. Die „Erfolge in Polen und Frankreich“ seien „zum großen Teil mit ihrer hervorragenden Optik durchgeführt worden“. Die Propagandaabteilung in Potsdam rühmt, dass „unser Schreibgerät die Leica“ sei. Die Leitz-Werke in Wetzlar produzieren kriegswichtige Produkte, Feldstecher, optische Linsen – und Leica-Kameras. Auch mit der Hilfe von Zwangsarbeiterinnen, vor allem aus der Ukraine.

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Filmclip„Die Nazis, der Rabbi und die Kamera“

Ernst Leitz II dankt und spricht, so ist es überliefert, von „unserem genialen Führer“. Erst nach diesem Geburtstag stellt er allerdings einen Aufnahmeantrag für die NSDAP. Gezwungenermaßen, so wird später deutlich. Im Geheimen redet er von den „braunen Affen“. Am 1. Mai 1933 war er, überzeugter Demokrat, an der Spitze der Demonstration seiner Arbeiter mit seiner Tochter gegen das Regime durch Wetzlar marschiert.

Er half vielen Menschen zu überleben, jüdischen Freunden, Geschäftspartnern und politisch Verfolgten, sorgte sich um Unterbringung und Arbeitsbedingungen der zugeteilten Zwangsarbeiterinnen und legte sich ihretwegen mit der Gestapo an. Man warf ihm „übertriebene Humanität“ vor. Seine Tochter Elsie Kühn-Leitz wurde von der Gestapo verhaftet und verbrachte im Herbst 1943 während der Bombenangriffe auf Frankfurt am Main Wochen im Gestapo-Gefängnis in der Klapperfeldgasse.

Zeitpanorama mit Bildbegleitung

Frank Dabba Smiths Begeisterung für das Produkt Leica und dessen Herkunft führten ihn nach Wetzlar zu Knut Kühn-Leitz, dem Enkel von Ernst Leitz II. Daraus entstanden eine Freundschaft und zwanzig Jahre gemeinsame Quellenarbeit, welcher der Film wesentlich zu verdanken ist. Neben sein Zeitgeschichtspanorama stellt er Porträtnahaufnahmen: das Bild von Frank Dabba Smith selbst, dessen Angehörige in der Schoa ermordet wurden, das der amerikanischen Fotografin Jill Enfield, deren Verwandte namens Ehrenfeld von Ernst Leitz II zum Schein angestellt und als Leica-Spezialisten trainiert wurden, damit sie sich nach der Flucht in Amerika eine Existenz aufbauen konnten. Von Jill Enfield stammt auch die hier gezeigte Fotoausstellung auf Ellis Island, die Gesichter Geflüchteter zeigt, „The New Americans“ (2013).

Die Fotografin Jill Enfield.
Die Fotografin Jill Enfield.© Andy Lehmann/Florianfilm

In zahlreichen, erhellend montierten Fotos zeigt die Dokumentation die Geschichte der jüdischen Familie Ehrenfeld, später Enfield, die auf der Einkaufsstraße Zeil in Frankfurt am Main bis zur Pogromnacht ein Geschäft für luxuriöse Geschenke betrieb. Unter anderem stellte man eine große Kollektion von Leicas aus und glänzte mit Fachberatung. Der Film zeigt auch Fotos aus Buchenwald, aus dem Block 5, „reserviert“ für Geschäftsleute wie Enfields Großvater und dessen Bruder, verhaftet, weil sie erfolgreiche Unternehmer waren. Häftlinge nicht in Uniform, sondern in gediegenen Mänteln stehen vor einer Phalanx von KZ-Beschäftigten mit Schreibmaschinen, um unter Zwang ihren Besitz zu überschreiben. Leitz besorgte mehreren Familienangehörigen Papiere, versorgte sie mit Empfehlungsschreiben und Kontakten.

Die Umstände der Zwangsarbeit in den Leitz-Werken sind ebenfalls Thema des Films. Statt an dieser Stelle die Berichte und Befunde von Frank Dabba Smith und dem Leitz-Urenkel Oliver Nass mitzuteilen, hätte man sich hier Zeitzeugenaussagen oder, falls nicht mehr möglich, zumindest einen Hinweis darauf gewünscht. Das ändert nichts daran, dass dem Film „Die Nazis, der Rabbi und die Kamera“ möglichst viele Zuschauer zu wünschen sind. Einer der wichtigsten Protagonisten, so wird deutlich, ist die Leica selbst. Ein optisches Gerät, das im Krieg nur scheinbar aufseiten der unmenschlichen Täter zu stehen kommt, weil es die Gräuel dokumentiert, weil es Quellen generiert und den Blick zu schärfen imstande ist. Man muss genau hinsehen wollen, wie es diese Dokumentation tut.

Die Nazis, der Rabbi und die Kamera läuft am Donnerstag um 20.15 Uhr bei Arte und ist von diesem Tag an bis zum 15. August in der Arte-Mediathek abrufbar.