Leverkusen deutscher Meister :
Der ewige Zweite wird zum Giganten

Von Daniel Theweleit, Leverkusen
Lesezeit: 4 Min.
Jubeln ausgelassen: Die Fußballprofis von Bayer Leverkusen sind deutscher Meister.

9 Bilder

Mit einer Fußball-Gala gegen Bremen beendet Bayer 04 Leverkusen die Serie der Bayern und wird erstmals deutscher Meister. Alonsos nächster Schachzug und das „Genie“ Wirtz erwecken wieder den Anschein des perfekten Spiels.

Ganz ohne Zweifel ist Bayer Leverkusen ein würdiger deutscher Meister des Jahres 2024, aber für den allerletzten Schritt über die Ziellinie benötigte der Klub am Sonntagabend noch Hilfe von unerwarteter Seite. Am Ende des 5:0-Sieges gegen Werder Bremen waren die Rheinländer auf die Vernunft des Schiedsrichters Harm Osmers angewiesen, der die Partie nach genau 90 Minuten und damit viel zu früh beendete.

Im Anschluss an das Tor zum 5:0 waren bereits zum zweiten Mal Hunderte Zuschauer auf den Rasen gerannt, beide Male drängten sich inmitten des überbordenden Glücksgefühls dunkle Gedanken an einen Spielabbruch auf. Nach Wirtz’ 4:0 in der 83. Minute ließen sich die Fans noch dazu bewegen, hinter die Banden zurück zu gehen, nach dem 5:0 des 20 Jahre alten Angreifers war das kaum noch möglich. Also entschloss sich Osmers zu einem pragmatischen Schlusspfiff. Sehr klug.

„Es ist unbeschreiblich“

Nun gab es kein Halten mehr, der Platz wurde zur Festwiese, Freudentränen flossen und Jeremie Frimpong wurde auf Händen getragen. Auch ein paar Handgreiflichkeiten gab es in dem Chaos, mit dem dieser Klub sein „Vizekusen-Trauma“ für immer überwunden hat. „Es ist unbeschreiblich, ich kann das noch gar nicht realisieren“, sagte Wirtz in einem ersten kurzen Fernseh-Interview.

Irgendwann spielte die Stadionregie zu Ehren des spanischen Trainers Xabi Alonso den Klassiker „Viva España“ ein, das passte, zumal Alonso auch vor diesem finalen Schritt über die Ziellinie wieder einmal unter Beweis gestellt hatte, was für ein besonderer Trainer er ist.

Während der meisten Phasen der Saison hatte er in der Bundesliga stets sein allerstärkstes Team aufgeboten und seine Schlüsselspieler meistens in den Pokalwettbewerben geschont. Gegen die Bremer, im aus Sicht vieler Anhänger größten Augenblick der Klubgeschichte, saßen nun plötzlich Florian Wirtz, Jeremie Frimpong sowie Alejandro Grimaldo zunächst auf der Bank.

Weil nüchterne Überlegungen zu der Erkenntnis führen mussten, dass die Sache mit der Meisterschaft sowieso nicht mehr schief gehen konnte, während eine Niederlage am Donnerstag im komplizierten Europa-League-Rückspiel bei West Ham United ungleich schmerzlich wäre. Aber wie alles, was Alonso in dieser Saison anfasst: Auch dieser Winkelzug funktionierte.

Nach 25 Minuten verwandelte Victor Boniface einen Foulelfmeter zum 1:0, und als in der zweiten Halbzeit Wirtz auf dem Platz war, traf Granit Xhaka zum 2:0 (60. Minute), bevor der junge deutsche Nationalspieler drei Tore folgen ließ (68., 83., 90.). Damit haben die Leverkusener eine nahezu perfekte Saison bereits frühzeitig gekrönt, obgleich es weitere schöne Möglichkeiten gibt.

Gelöschter Makel

Aber diese Meisterschaft bliebe auch dann der kostbarste Triumph, wenn die beiden anderen weiterhin möglichen Titel folgen sollten. Zum einen haben die Leverkusener den DFB-Pokal (1993) sowie die Europa League, die damals noch UEFA-Cup hieß (1988), schon gewonnen. Vor allem jedoch ist die gemeine Legende vom ewigen Zweiten zuallererst mit der Bundesliga verbunden. Dieser Makel ist gelöscht.

Daher erscheint diese Saison im historischen Kontext geradezu wie eine trotzige Gegenreaktion auf die Bundesligadramen der Vergangenheit, in deren Verlauf insbesondere die Trainer Christoph Daum (2000) und Klaus Toppmöller (2002) große Titelchancen ungenutzt ließen. Diesmal gab es kein Nachlassen, kein Pech, alles blieb perfekt ausbalanciert.

Sport-Geschäftsführer Simon Rolfes hat einen Kader zusammengestellt, der in allen Lagen funktionierte und nie die Spannung verlor. Die Neuzugänge wie Xhaka, Grimaldo, Boniface und Jonas Hofmann hoben das Team auf ein neues Niveau und haben dazu beigetragen, dass alle Verletzungen und jede Formschwäche kompensiert werden konnten.

Selten haben ein Sportchef und ein Trainer ein derart gut funktionierendes und für jede Eventualität präpariertes Team zusammengestellt, womit Xabi Alonsos Anteil am Erfolg aber nicht einmal ansatzweise beschrieben ist. Der 42 Jahre alte Spanier hat ein Erfolgsklima mit einer imponierenden Ausgewogenheit zwischen Anspannung und Regeneration erzeugt, das dauerhaft leistungsfördernd blieb.

Die Leverkusener haben nun 43 Spiele absolviert und hatten keine einzige Schwächephase. Mittlerweile wirkt diese Mannschaft energiegeladen wie ein Rudel junger Hunde, die auf die Wiese laufen, losspielen und immer weitermachen, als hätten sie noch nie davon gehört, dass man auch mal müde werden kann. Und so gratulierte Bayern München, der entthronte Rekordmeister umgehend zu einer „herausragenden Saison und Meisterschaft“.

Denn etliche Spiele hat Leverkusen mit dieser Mentalität in der Nachspielzeit gewonnen. „Wenn er dir etwas sagt, dann glaubst du ihm das“, hat Xhaka vor kurzen über Alonso gesagt, „und er macht im Training gefühlt mehr Kilometer als alle Spieler.“

Mastermind Alonso

Dabei ist der Baske kein Chefcoach, der glaubt, alles bestimmen zu müssen. „Er möchte lernen“, erläuterte Xhaka weiter, „er holt sich auch Tipps von uns Spielern, es macht einfach Spaß, wenn du einen da draußen hast, der ein offenes Ohr hat.“ Der Meistertrainer ist das Mastermind dieses Erfolges, Xhaka ist das ausführende Organ auf dem Rasen und Florian Wirtz das „Genie“ (Alonso), das dem Konstrukt den Anschein vollständiger Perfektion verleiht.

Mit dem Sieg gegen Bremen sind die Leverkusener nun in 43 Pflichtspielen ungeschlagen, von allen Klubs aus Europas großen Ligen hat zuvor nur Juventus Turin eine vergleichbare Serie hinbekommen (ebenfalls 43 in der Saison 2011/2012).

Der ewige Zweite aus der kleinen Stadt Leverkusen mit ihren 170.000 Einwohnern, wo der große Bayer-Konzern gerade einen Milliardenverlust und Pläne zu weiteren Stellenstreichungen öffentlich gemacht hat, ist zum Giganten geworden, dem die Herzen zufliegen. Selbst in der Nachbarschaft, in Köln, laufen Kinder durch die Stadt, die sich manchmal unter Widerspruch peinlich berührter Eltern plötzlich als Leverkusen-Fan bezeichnen. Die Werkself boomt.

Innerhalb von eineinhalb Jahren stieg die Mitgliederzahl von rund 30.000 auf jetzt mehr als 50.000. Die Atmosphäre im früher immer etwas dröge wirkenden Stadion ist laut und intensiv, und zwei weitere Titel sind ja auch noch möglich: in der Europa League und im DFB-Pokal-Finale am 25. Mai gegen den Zweitligaverein 1. FC Kaiserslautern (20.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zum DFB-Pokal, in der ARD und bei Sky).

Nur der Rathausbalkon, um all das zu feiern, fehlt. Aber die Leverkusener sind Rheinländer und werden schon Wege finden, um es richtig krachen zu lassen. Wobei der stets asketisch auftretende Alonso zunächst dafür sorgen dürfte, dass im Rückspiel bei West Ham United am Donnerstag, wo ein 2:0 verteidigt werden muss, alle Körper fit und alle Köpfe voll bei der Sache sind. Denn noch ist die Geschichte dieser Saison nicht zu Ende geschrieben.