Die Bedeutung einer Geste : „Küssen ist orale Kommunikation“
Ein Stückchen Kommunikation. In meinem Buch geht es vor allem um den kommunikativen Aspekt des Küssens. Damit meine ich, dass Küssen weder etwas rein Körperliches noch etwas rein Sexuelles ist. Ich vertrete die Auffassung, dass es sich beim Küssen vor allem um eine Art der Körperkommunikation handelt. Wie jede andere Kommunikationsform unterliegt das Küssen bestimmten Regeln, um Bedeutung zu konstituieren und zu übermitteln.
Wenn wir beispielsweise in Rom eine Pizza mit Artischocken bestellen wollen, aber nicht wissen, dass der italienische Ausdruck hierfür Pizza ai carciofi ist, zeigen wir mit unserem Finger auf ein Bild in der Speisekarte. Wir greifen immer dann auf Körperkommunikation zurück, wenn die Grenzen des Verbalen erreicht sind. Aber auf etwas hinzuweisen ist nur eine ganz spezielle Form der Kommunikation. Ein anderer Fall für Verständigungsschwierigkeiten sind Beziehungsgespräche. Über rationale Dinge lässt sich zwar gut sprechen, aber sobald es um Gefühle geht, fehlen uns oft die Worte. Mit einem Kuss können wir Gefühle ausdrücken, wo wir es mit Sprache nicht mehr können. Küssen ist orale Kommunikation ohne verbalen Anteil.
Im legendären Signature-Song des Films „Casablanca“ heißt es: „A kiss is just a kiss.“ Das stimmt, denn ein Kuss ist erst mal nur ein Kuss, er ist noch nicht die ausgedrückte Zuneigung. Es gibt zwar Kommunikationsformen, in denen die Kommunikation gleichzeitig die durch sie beschriebene Handlung ist. Ein Beispiel hierfür ist das berühmte Ja-Wort bei der Hochzeit. Haben die künftigen Ehepartner „Ja, ich will“ gesagt, vollziehen sie im selben Moment ihre Eheschließung. Beim Küssen ist das nicht zwangsläufig der Fall. Dazu hat das Küssen zu viele verschiedene Bedeutungsaspekte.
Die Geschichte des Küssens ist außerordentlich wechselhaft. Bei den antiken Griechen und Römern war das Küssen schwer in Mode. Die Römer unterschieden drei verschiedene Arten des Kusses, für die sie auch je eigene lateinische Ausdrücke hatten. Allerdings war das Küssen in den antiken Kulturen sehr hierarchisch geregelt. Es war undenkbar, dass ein Mensch von hohem Stand beispielsweise einen Sklaven küsste. Im Christentum der Frühkirche änderte sich das. Apostel Paulus forderte die Christen in seinen Briefen dazu auf, sich zum Zeichen des Friedens zu küssen. Dass man hier ungeachtet des gesellschaftlichen Standes einander küsste, galt als Ausdruck der Gleichheit aller Menschen vor Gott. Als die Kirche im Verlaufe des Mittelalters zu derjenigen lustfeindlichen Organisation wurde, als die wir sie heute kennen, änderte sich das. Papst Innozenz III. verbot schließlich den Kuss zwischen Gläubigen gänzlich. Anfangs behalf man sich mit sogenannten Kusstäfelchen. Das waren kleine Hölzer, die man küsste und weiterreichte. Als man in der Renaissance die Sinnlichkeit wiederentdeckte, tauchte das Küssen als romantische Geste wieder auf, als die wir sie heute kennen. Die Geschichte des Küssens verläuft konjunkturell.
Ich würde sagen, das wir uns aktuell in einem Konjunkturabschwung des Küssens befinden. Die letzte hohe Zeit des Küssens in den westlichen Industriegesellschaften war sicherlich die große Zeit des Hollywoodfilms in den 1940er- und 1950er-Jahren. Damals ist man gezielt ins Kino gegangen, um anderen Menschen beim Küssen zuzusehen. Man nutzte das Kino zudem als Ort, um der oder dem Liebsten heimlich auch selbst einen Kuss zu geben. Davon kann heutzutage nicht mehr die Rede sein. Keine Filmhandlung im Kino läuft letztlich mehr auf den einen großen Kuss hinaus. Im Fernsehen finden solche Entwicklungen immer leicht verzögert statt. Der letzte Fernsehkuss, der in Deutschland noch öffentliches Aufsehen erregt hat, war Anfang der 1990er-Jahre der zwischen Carsten Flöter (Georg Uecker) und Robert Engel (Martin Armknecht) in der „Lindenstraße“. Es gibt auch keine Küsse mehr, die skandalisieren und gesellschaftspolitische Diskurse mitbestimmen. In den 1950ern war das sicherlich noch ganz anders.
Taylor Swift hat Travis Kelce einen sogenannten Siegerkuss gegeben. Einen Sieger zu küssen ist nicht ungewöhnlich, sondern gehört zum Bedeutungsrepertoire, das das Küssen seit der griechischen Antike besitzt. Aber: Es muss einvernehmlich geschehen. Bei Swift und Kelce wissen wir, dass sie ein Paar sind, also können wir hier von einem einvernehmlichen Kuss ausgehen. Auch bei der letztjährigen Frauen-Fußball-WM gab es einen viel diskutierten Siegerkuss. Der Fußballfunktionär Luis Rubiales zwang der spanischen Spielerin Jennifer Hermoso nach dem WM-Finale 2023 einen Kuss auf den Mund auf. Das führte zu einem großen Eklat, denn der Kuss war nicht einvernehmlich. Streng genommen, kann man hier gar nicht von einem Kuss sprechen. Man kann jemanden nicht zur Kommunikation zwingen, und Küssen ist schließlich Kommunikation. In den Boulevardmedien verwendete man in diesem Zusammenhang den Ausdruck Kussskandal. Diesen Ausdruck halte ich für falsch. Taylor Swifts Kuss kommuniziert Travis Kelce: You are the one and only. Rubiales’ Handlung hat vermutlich nichts anderes ausgedrückt als: Ich mache hier, was ich will, denn ich bin der Boss.
Darüber hat bereits Sigmund Freud in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ nachgedacht. Er fand es eigenartig, dass wir mit einer Berührung romantische Vorstellungen verbinden, bei der jemand seine Zuneigung gegenüber dem Eingang seines Verdauungstraktes ausdrückt. Man könnte sich fragen, ob die Beliebtheit deutscher Kochsendungen damit zu tun hat, dass das Verschlingen der gekochten Nahrung orale Kommunikation vorführt. Essen und Küssen sind als orale Formen der Kommunikation einander ähnlich. Das gilt womöglich auch für ein geextes Bier.
Es sind sehr unterschiedliche Kommunikationssituationen. Essen können Sie allein, küssen können Sie nur zu zweit. Wenn ich beim Essen beobachtet werde, kommuniziere ich zwar essenderweise mit dem Beobachter, aber nicht mit dem Essen selbst. Beim Küssen teile ich einen intimen Moment mit der geküssten Person, der durch Wahrnehmungen wie Nähe und Körperwärme ausgedrückt wird. Externe Beobachter nehmen lediglich auf visueller Ebene daran teil. Die körperliche Ebene entfällt vollständig, sobald ich jemanden nur beobachten kann.