„The Holdovers“ im Kino :
Drei einsame Herzen

Von Bert Rebhandl
Lesezeit: 4 Min.
Dominic Sessa (rechts) und Paul Giamatti in Alexander Paynes Film „The Holdovers“.
Verspätetes Weihnachtsgeschenk: Alexander Paynes wehmütige Filmkomödie „The Holdovers“ ist auf angenehme Weise aus der Zeit gefallen.

Weihnachten ist das Fest der Familie. So sagt man gern, allerdings ist damit noch nicht viel gesagt. Denn die meisten Menschen haben zwar Familie, doch was für die einen ein bergender Schoß ist, in den man sich rund um den Jahreswechsel für ein paar Tage gern fallen lässt, ist für die anderen ein Albtraum, weil sich die Familie nach dem zweiten Punsch unweigerlich zu befehden beginnt. Und dann herrscht verkaterter Stellungskrieg bis Sankt Stephanus.

Alexander Paynes „The Holdovers“ kommt nun als verspätetes Weihnachtsgeschenk in die Kinos. Die Saison um den Heiligen Abend war wohl mit Animationsfilmen so überfüllt, dass man diese wehmütige Komödie für Erwachsene und Heranwachsende lieber ins neue Jahr geschoben hat. Eine motivische Verbindung ist da aber noch: In „The Holdovers“ gibt es viel Schnee. Und natürlich jede Menge Familie – in Abwesenheit.

Der Titel deutet das schon an. „The Holdovers“, das sind ein paar Menschen, die sich als „Überbleibsel“ sehen müssen. Es sind die frühen Siebzigerjahre in Amerika. In einem Internat herrscht Aufbruchsstimmung. Die meisten Schüler haben Pläne für die Winterferien, sie sind in einem Alter, in dem diese Pläne in der Regel noch von den Eltern gemacht werden.

Bald wird es still in den ehrwürdigen Hallen der Barton Academy. Doch halt, da ist ja noch jemand. Paul Hunham, das alte Ekel. Der Lehrer für Alte Geschichte wurde dazu verdonnert, als Betreuer für die paar armen Kerle zu fungieren, die von niemandem abgeholt werden. Es stellt sich dann heraus, dass es nur ein junger Mann ist, dem dieses Pech widerfährt: Angus Tully, ein dürrer, hoch aufgeschossener Bursche mit Künstlermähne. Seine Mutter hat ihn im letzten Moment hängen lassen, nun darf er sich mit Recht als einsamster Mensch der Welt fühlen.

Seine Gesellschaft besteht für ein paar Tage aus Paul Hunham und Mary, der afroamerikanischen Köchin. Sie trägt ihren eigenen Schmerz mit sich. Ihr Sohn, ein begabter Schüler, ist gerade im Vietnamkrieg gefallen. Angus, Paul und Mary – in den Sixties gab es ein Folk-Trio namens Peter, Paul and Mary, das mit seinem mehrstimmigen Gesang viele Klassiker des amerikanischen Protestlieds in Harmonie verwandelte. In „The Holdovers“ findet etwas Ähnliches statt, nur sind die Widersprüche, die es zu vermitteln gilt, deutlich drastischer. Da ist zuerst einmal Hunham.

Ein Kathederpedant, wie er im Buche steht. Völlig aus der Zeit gefallen mit seinen lateinischen Zitaten und seinem Dogma, dass es seit dem alten Rom in der Geschichte nur noch abwärtsgehe. Dazu eine abstoßende Erscheinung mit dubioser Hygiene. Und das Schielauge erst! Die Karrieren des Schauspielers Paul Giamatti und des Regisseurs Alexander Payne sind seit zwanzig Jahren eng verbunden.

Einsame Exzentriker werden erlöst

In „Side­ways“ (2004) spielte Giamatti einen Englischlehrer, der gern ein Schriftsteller wäre und der sich mit einem Freund auf eine Tour von Weingut zu Weingut begibt. Damals wurde der Typus etabliert, den Giamatti nun mit Paul Hunham zu einer denkwürdigen Figur vervollkommnet. Es gehört übrigens auch zu den Regeln von Weihnachten, dass einsame Exzentriker, die in sich selbst eingesperrt sind, erlöst werden – Paul Hunham ist natürlich ein neuer Ebenezer Scrooge.

In „The Holdovers“ geht er an die Grenzen des Erträglichen, kann sich dabei aber in einer Dramaturgie aufgehoben fühlen, der das Lernziel immer schon eingeschrieben ist: Aus den Überbleibseln wird eine Übergangsfamilie, drei einsame Herzen werden schließlich in Eintracht schlagen. Davor kostet Alexander Payne aber die Eigenheiten seiner beiden Streithähne noch so richtig aus. Er profitiert dabei von einer großen Entdeckung.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
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Für Dominic Sessa ist Angus die erste Kinorolle. Es ist ein fulminantes Debüt. Und es sind die Spannungen einer ganzen Generation, die Angus spürbar macht. Die hedonistische Mutter, die ihren Sohn verrät, der Vater, der als Autorität ausfällt (wegen einer psychischen Krankheit), die Institution, die mit einem ungebärdigen Talent nicht umgehen kann – all das spielt Sessa als Angus vibrierend, immer perfekt auf der Kippe zwischen einem Widerstand, der noch pubertär ist, und Ausbrüchen, in denen sich schon genuine Autonomie und Ansätze zu dem vielleicht genialen Menschen zeigen, der aus Angus einmal werden könnte.

Payne öffnet dabei Schritt für Schritt auch den Raum. Was für eine Weile wie ein Kammerspiel aussieht, findet später eine weitere Ebene, wenn Angus sich nicht mehr an die Ausgangssperre hält. Die Großstadt Boston lockt mit ihren Verführungen, und so findet sich auch der Kulturpessimist Hunham unvermutet in einer Welt wieder, die ihm wie ein Sündenbabel erscheinen müsste – das Konzept „Sünde“ kennt ein alter Stoiker und heimlicher Säufer für sich natürlich nicht.

Das Erbe von New Hollywood

Der leicht verspätete Starttermin von „The Holdovers“ enthält eine Wahrheit, die wiederum zu der Erzählung des Films zurückführt. Payne bewahrt im heutigen US-amerikanischen Kino Tugenden, die um 1970 an Gewicht gewannen. Das New Hollywood der damaligen Zeit setzte auf Charakterrollen, ungewöhnliche Milieus und brauchte selten große Budgets. Dass jetzt ein anderes Hollywood dominiert, das den Markt mit Superhelden- und Kinderware flutet, sodass „The Holdovers“ ins neue Jahr ausweichen musste, ist ein Umstand, der Hunhams Kulturpessimismus zu bestätigen scheint.

Auch das Kino hat mittlerweile eine Antike, neben der vieles Neuere ein wenig schal wirkt. Alexander Payne erscheint mit Filmen wie „Nebraska“ oft ein bisschen wie aus der Zeit gefallen – doch macht er darin selbst gern Ungleichzeitigkeiten zum Thema.

In „The Holdovers“ geht nun alles perfekt auf: ein Blick zurück nach vorn, der sich in dem enormen Charisma von Dominic Sessa neben der brillanten Misanthropie von Paul Giamatti erfüllt. Es empfiehlt sich, mehrere Sichtungen anzustreben: dieser Tage im Kino, und wenn dann im Dezember wieder Weihnachten ist, noch ein paar Mal daheim auf der Couch, bei einem Fest mit einer herrlichen Filmfamilie.