Schriftstellerin Ann Patchett :
Wie das Leben glücken kann

Lesezeit: 7 Min.
Es gibt nicht nur das Schreckliche in der Welt: Ann Patchett.
Schluss mit dem Drama: Ann Patchetts neuer Roman zeigt, was reife Liebe jugendlicher Leidenschaft voraushat. Ein Gespräch über das Alltägliche in der Literatur, Schreiben auf dem Laufband und nette Trump-Wähler.
Frau Patchett, als Romanautorin, Essayistin und Inhaberin einer Buchhandlung sind Sie viel beschäftigt. Wie sieht ein typischer Tag von Ihnen aus?

Gerade arbeite ich nicht an einem Roman, dann habe keinen festen Zeitplan. Heute kümmere ich mich um meine Post, gehe in den Buchladen, bringe meine Mutter zum Lebensmittelmarkt und schreibe eine Rede für Veranstaltungen, zu denen ich morgen reise.

Stimmt es, dass Sie im Gehen schreiben?

Ja, ich habe ich einen Schreibtisch mit Laufband. Das hilft bei der Konzentration. Mit sechzig Jahren wird das Sitzen langsam mühsam und sorgt für Verspannungen im Nacken. Nach einem Schreibtag auf dem Laufband bin ich zwar müde, und die Füße tun ein bisschen weh, aber das ist in Ordnung.

Auch im Gehen ist das Schreiben eine einsame Tätigkeit. Sind Sie deshalb Buchhändlerin geworden?

Ich hatte nie vor, eine Buchhandlung zu eröffnen. Aber als Buchläden in Tennessee, wo ich lebe, schlossen, fand ich das traurig. Dann wurde mir eine Frau vor­gestellt, Karen Hayes. Sie wollte eine Buchhandlung eröffnen und leiten, nur fehlte ihr das Kapital. Also haben wir uns zusammengetan. So ging es zehn Jahre, bis sie in Rente ging. Jetzt führe ich das Geschäft allein.

Welche Funktion erfüllt eine Buchhandlung in einer Stadt?

Kennen Sie das soziologische Konzept des „Dritten Orts“? Der „Erste Ort“ ist Ihr Zuhause, der „Zweite Ort“ Ihr Arbeitsplatz. Dann brauchen Sie noch einen dritten, an dem man sich austauscht. Das kann eine Bar sein oder eine Buchhandlung. Wir sind ein „Dritter Ort“.

Würden Sie den Schritt in den Handel wieder tun?

Wahrscheinlich schon. Ich mag die Mitarbeiter und Kunden, und ich empfehle gerne Bücher. Befreundete Schriftsteller halten bei uns Lesungen, weshalb ich laufend Gäste zu Hause beherberge. Manchmal vermisse ich mein früheres Leben, aber der Buchladen hat mich produktiver gemacht. Seitdem ich weniger Zeit fürs Schreiben habe, schreibe ich mehr.

Wie ist Ihr Geschäft durch die Covid-Krise gekommen?

Phantastisch, weil sie uns experimentierfreudiger gemacht hat. Als wir das Ladenlokal schließen mussten, konzentrierten wir uns auf den Onlinehandel. Ich ­habe begonnen, Buchempfehlungsvideos ins Netz zu stellen. Diese Videos tragen immer noch am meisten zu unserem Erfolg bei. Durch sie fühlen Menschen sich mit unserem Geschäft persönlich verbunden. Inzwischen gehen Bestellungen aus aller Welt bei uns ein. Meine Karriere als Schriftstellerin lief vorher schon gut, aber durch die Videos und die Buchhandlung hat sie einen weiteren Schub bekommen.

Während der Pandemie haben Sie gleich zwei Bücher geschrieben. Was haben Sie dabei über sich selbst gelernt?

Dass ich als Schriftstellerin mein Leben lang für die Pandemie trainiert hatte. Was in der Welt geschah, war furchtbar, aber ich selbst war glücklich, weil ich am liebsten zu Hause bin. Ich konnte die Rüstung ablegen, die ich mir zugelegt hatte, um ­hinaus in die Welt zu gehen. Ich fühlte mich wieder wie ich selbst.

Der berührendste Essay Ihres Sammelbands „Diese kostbaren Tage“ handelt von der Künstlerin Sooki Raphael. Sie kannten sie flüchtig als Assistentin von Tom Hanks, bis sie während des Lockdowns monatelang bei Ihnen zu Hause festsaß, weil sie sich einer Krebstherapie unterziehen musste. Wann wurde Ihnen klar, dass Sie darüber schreiben würden?

Sehr früh. Sooki aber war ein Mensch, der seine Privatsphäre stark abschirmte. Sie lebte ganz in der Gegenwart. Während ihrer Zeit bei uns sprach sie weder über ihren Mann noch über ihre Kinder, Tom Hanks, die Vergangenheit oder Zukunft. Ich wusste, es wäre ihr nicht recht, wenn ich über sie schriebe. Doch ein paar Jahre zuvor hatte mir die Schriftstellerin Elizabeth Gilbert, eine gute Freundin von mir, einen Essay über ihre Nachbarn zu lesen gegeben. Ich sagte: „Das ist ein phantastischer Text, wann wirst du ihn veröffentlichen?“ Liz antwortete: „Niemals, aber ich musste ihn schreiben, weil ich Schriftstellerin bin.“ So geht es mir auch. Also sagte ich Sooki: „Ich muss aufschreiben, was wir erleben, aber außer dir braucht den Text niemand zu lesen.“ Das war okay für sie.

Wie reagierte sie dann auf den Text?

Sie meinte: „Sehr schön, aber das bin ich nicht.“ Daraufhin bat ich sie, den Essay den Menschen zu lesen zu geben, die ihr am nächsten stehen. Alle sagten: „Genau so bist du.“ Danach haben Sooki und ich gemeinsam an dem Text gearbeitet. Schließlich stimmte sie der Veröffent­lichung zu. Ein Magazin druckte das Stück und dazu ein Gemälde von ihr ab. Sie bekam viele positive Rückmeldungen. Das war eine der beglückendsten Er­fahrungen meines Lebens. Ich hatte das Gefühl, etwas Wichtiges getan zu haben.

Was geschieht, wenn das Leben zu Literatur wird?

Wenn mir etwas widerfährt, das so schwerwiegend oder so schön ist, dass ich es gedanklich nicht immerzu mit mir ­herumtragen möchte, das ich aber auch nicht vergessen will, dann hilft mir, es aufzuschreiben. Ich weiß nicht, wie Menschen mit ihrem Leben klarkommen, die das nicht tun. Rückblickend staune ich darüber, wie viele meiner Ängste und ­Erfahrungen ich in meinen Essays niedergelegt habe. Das eröffnet mir retro­spektiv eine neue Perspektive auf mich selbst – anders als meine Romane, obwohl auch in sie Persönliches einfließt.

Kirschernte und „cherry picking“ in Erinnerungen: Beides spielt in Ann Patchetts Roman „Der Sommer zuhause“ eine wichtige Rolle.
Kirschernte und „cherry picking“ in Erinnerungen: Beides spielt in Ann Patchetts Roman „Der Sommer zuhause“ eine wichtige Rolle.dpa
Ihren Durchbruch feierten Sie vor zwanzig Jahren mit „Belcanto“, einem später verfilmten Roman über eine Geisel­nahme. Mit anderen Menschen festzusitzen ist ein Leitthema Ihres Schreibens. In Ihrem neuen Roman, „Der Sommer zu Hause“, setzt die Rückkehr dreier erwachsener Töchter während der Pan­demie auf die elterliche Kirschfarm die Handlung in Gang. Was reizt Sie an solchen Konstellationen?

Ich mag Plots, in denen die Figuren gezwungen sind, ihre Probleme miteinander zu lösen, weil sie nicht voneinander loskommen. Die eigene Familie kann man nie ganz verlassen, und sei es, dass man ­irgendwann wieder auf eine Beerdigung gehen muss oder Ähnliches.

Situationen ohne Entkommen haben auch etwas Theatrales. Neben weiteren ­literarischen Anspielungen spielt in Ihrem neuen Roman „Unsere kleine Stadt“ von Thornton Wilder eine zentrale Rolle. Was bedeutet Ihnen dieses Drama?

Das Wunderbare an diesem Theaterstück ist, dass es von nichts Besonderem handelt. Zwei junge Menschen wohnen Tür an Tür, verlieben sich im zweiten Akt, heiraten, und im dritten Akt stirbt die Frau. Ihr Tod macht das scheinbar Banale bedeutsam. Es geht darum, dem Leben Aufmerksamkeit zu schenken, solange es dauert. Denn es ist kurz, und es ist alles, was wir haben. Ich habe „Unsere kleine Stadt“ schon immer geliebt. In meinem Roman passiert so wenig wie in dem ­Drama: Die Familie ist beisammen, es gibt einen Sturm, aber ansonsten geschieht bloß Alltägliches. Darin zeigt sich das Leben.

Und die Liebe: Im Roman erzählt die Mutter als Ich-Erzählerin von ihrer Jugendbeziehung zu einem später berühmt gewordenen Schauspieler, mit dem sie gemeinsam Theater spielte. Was unterscheidet die Liebe junger Paare von der älterer?

Wenn man jung ist, gleicht Liebe einer Achterbahnfahrt: Alles ist schrecklich aufregend, obwohl einem übel wird. Behandelt einen der andere schlecht, wird dadurch nur hinreißender, dass er danach wieder nett zu einem ist. Man ist wie auf Drogen. Dann wird man älter und begreift: Menschen, die man in seinen Zwanzigern gedatet hat, würde man niemals wieder als Partner akzeptieren, weil man jemanden braucht, der immer nett ist, außer er hat einen extrem lausigen Tag. Beides aber hat seinen Wert: die verrückte Liebe zu demjenigen, mit dem man nicht zusammenbleibt, und die Beziehung von Dauer mit jemandem, den man früher für langweilig gehalten hätte.

Ann Patchett, „Der Sommer zuhause“. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer. Berlin Verlag, 2024. 400 Seiten, 26 Euro
Ann Patchett, „Der Sommer zuhause“. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer. Berlin Verlag, 2024. 400 Seiten, 26 EuroPiper
Die Töchter der Protagonistin sind Mitte zwanzig und fallen ihr wie ein griechischer Chor immerzu ins Wort.

Weil wir nicht wissen, was unsere Eltern getan haben, als sie jung waren. Wir hegen diese seltsame Vorstellung, sie wären erst interessant geworden, als wir dazukamen. Die Töchter glauben sogar, mehr über ihre Mutter zu wissen als diese selbst.

Sie schauen mit Augen der MeToo-Generation auf die Vergangenheit. Haben Sie den Schauspielagenten der Mutter deshalb Ripley genannt? Er ist doch gar kein so übler Kerl.

Kennen Sie „Ripley’s Believe it or not“?

Die Kuriositätenkabinette?

Ja, da geht es nur um albernen Spaß. Daran denke ich beim Namen Ripley – und an den Mörder aus Patricia Highsmiths „Der talentierte Mr. Ripley“. Ein Buch, das ich übrigens hasse, es ist so seelenlos. Ich kann Highsmith nicht ausstehen.

Nachvollziehbar, wenn man an die antisemitischen Einlassungen dieser Autorin in ihren postum veröffentlichten Tage­büchern denkt. In Ihren eigenen Werken bleiben politische Konflikte und globale Krisen im Hintergrund. Ist es eine Entscheidung für das Universelle oder gegen das Kontroverse?

Es geht mir darum, wie wir abseits des Schreckens in der Welt unser normales ­Leben führen. Als extrem politisierter Mensch gehen Sie womöglich auf eine Party und regen sich dort über den Brexit, Israel, die Klimakrise und den Trump-Horror auf. Danach schauen Sie in die sozialen Medien und werden wieder wütend. Das alles nimmt aber nicht mehr als vielleicht vierzig Minuten Ihres Tages in Anspruch. Die restliche Zeit verbringen Sie bei Ihrem Job, putzen, kümmern sich um die Kinder und führen den Hund Gassi. Dabei treffen Sie Menschen, die eigentlich ganz umgänglich sind. Das ist in der fiktionalen Literatur unterrepräsentiert.

Wie eine glückliche Ehe?

Auch darüber habe ich geschrieben, und man könnte sagen: wie naiv. Aber ich führe eine glückliche Ehe und Freunde von mir ebenfalls. Es gibt Unmengen von Büchern über eine dystopische Zukunft, das Grauen, das uns umgibt, und Grauen, das noch auf uns zukommt. Wir kon­zen­trieren uns auf das Drama, die Kata­strophen.

Kennzeichnet das auch die USA vor der Präsidentenwahl? Wie empfinden Sie die Atmosphäre?

Die Gegend, in der ich lebe, ist sehr konservativ und pro Trump. Und dann ist da die unfassbare Waffengesetzgebung in meinem Bundesstaat . . .

. . . in dem Lehrer seit Neuestem Waffen tragen dürfen . . .

. . . was mich momentan noch stärker umtreibt als der Präsidentschaftswahlkampf. Das Leben in Tennessee hat aber auch ­Gutes: Man kennt zwangsläufig viele durchaus nette Leute, die Trump wählen. Ich verstehe sie zwar nicht, aber es sind keine Bestien, die bewaffnet durch die Straßen ziehen, sondern vernünftige menschliche Wesen.

In Tennessee: Wahlwerbung für Donald Trump im großen Stil
In Tennessee: Wahlwerbung für Donald Trump im großen Stildpa
Wie wird die Wahl ausgehen?

Biden ist der beste amerikanische Präsident, den ich bisher erlebt habe, und ich glaube, dass er die Wahl gewinnen wird. Als positiv denkender Mensch kann ich nicht glauben, dass jemand, der derart gegen Gesetze verstoßen hat wie Trump, noch einmal durchkommt. Mein Mann ist sich da weniger sicher. Er fragt mich ­immer wieder: Was machen wir, wenn Trump gewinnt? Doch darüber nachzudenken hat keinen Sinn. Wir müssen uns auf die Gegenwart konzentrieren. Ich tue alles, um die Kampagne Bidens zu unterstützen. Vor ein paar Wochen war ich im Weißen Haus, um darüber zu sprechen.

Was bereitet Ihnen die größten Sorgen?

Der Klimawandel, weil wir uns wohl auf einen Kipppunkt zubewegen. Inzwischen frage ich mich, ob wir noch eine Chance hätten, das Klima zu stabilisieren, wenn von sofort an jeder auf dem Planeten das Richtige dafür täte.

Und was stimmt Sie optimistisch?

Dass die Menschen lesen, Gemeinschaft suchen, sich austauschen wollen. Das erfahre ich jeden Tag in meiner Buchhandlung. Ich werde meine Tage nicht damit zubringen, gegen Sturmgewehre im Staate Tennessee anzurennen, deren Verbot ich doch nicht erreichen kann. Aber ich kann Kindern Bücher kaufen, die sich keine leisten können, Lesungen veranstalten, Autoren in Schulen bringen. Verbringen Sie Ihre Zeit nicht in den sozialen Medien, schauen Sie kein Fernsehen. Lesen Sie lieber die Lokalzeitung und gehen in eine Buchhandlung. Dann werden Sie fest­stellen, dass die Welt doch ein ziemlich großartiger Ort ist.

Von Ann Patchett ist zuletzt im Berlin Verlag der Roman „Der Sommer zu Hause“ erschienen, übersetzt von Ulrike Thiesmeyer.