Auf Spotify & Co :
Die große Song-Schwemme

Lesezeit: 6 Min.
Umtriebig: Trent Reznor (rechts) arbeitete schon früh mit Tunecore.
Musik veröffentlichen ist heute einfacher denn je. 100. 000 Songs sollen mittlerweile täglich neu auf Spotify und Co erscheinen – Tendenz steigend. Manche sehen in der Masse ein Problem. Für andere ist sie elementarer Teil des Geschäfts.

Tag für Tag erscheinen rund 100.000 neue Songs auf Spotify und Co. Seit rund drei Monaten kursiert diese Zahl in der Musikindustrie. Vom schwedischen Marktführer oder von einem anderen Streaming-Dienst stammt sie nicht. Zwei der führenden Köpfe der Branche haben sie in die Welt gesetzt: der Chef von Universal Music, Lucian Grainge, und sein scheidendes Pendant bei Warner Music, Steve Cooper – natürlich gepaart mit dem dezenten Hinweis, dass es starke Partner wie ihre Labels brauche, um aus dieser Masse herauszustechen.

Spotify hatte im Februar 2021 noch den Wert 60.000 genannt. Darunter sind Stücke von Hobby-Musikern, berühmt-berüchtigte „White Noise“-Tracks mit minutenlangem Rauschen, Cover-Songs, Remixe oder das neue Release eines globalen Superstars. Derzeit wirbt Spotify mit „über 82 Millionen Songs“, Apple und Amazon Music mit mehr als 100 Millionen, auf Youtube findet sich ohnehin noch einmal mehr. Viele Songs aus dieser immer weiter anwachsenden Masse werden kaum gestreamt und generieren folglich verschwindend geringe Einnahmen für ihre Interpreten und Songwriter. Dass sie aber überhaupt für Abermillionen Musikfans auf der Welt verfügbar sind und das auch noch schnell und günstig, wird gerne als eine der großen Errungenschaften der Streaming-Ökonomie angeführt.

„Die Algorithmen belohnen regelmäßige Veröffentlichungen“

Für dieses Versprechen stehen allen voran die zahlreichen Digitalvertriebe wie Distrokid, Recordjet, United Masters, CDBaby oder Tunecore. Das Angebot unterscheidet sich je nach Dienst leicht, ihr Kernversprechen aber ist simpel: gegen eine geringe Einmalzahlung Musik hochladen und die kompletten Tantiemen oder zumindest den Großteil daraus einstreichen. Immer mehr Songs auf den Plattformen ist also genau das, was die Dienste wollen. Das unterstreicht der Schritt von Tunecore, einem der großen Anbieter und Teil der französischen Believe -Gruppe. Seit Juli 2022 können Nutzer für einen Jahresbetrag unbegrenzt Musik veröffentlichen, 14,99 Euro kostet das Basispaket.

„Die Algorithmen – ob von den Social-Media- oder den Streaming-Plattformen – belohnen Engagement und regelmäßige Veröffentlichungen“, sagt Tunecore-Chefin Andreea Gleeson im Gespräch mit der F.A.Z. Das neue Modell komme gut an, seit der Umstellung veröffentlichen Künstler mehr und öfter Musik. Das sei eben auch der Weg, „wie sie im heutigen Markt am ehesten Erfolg haben werden“.

Andreea Gleeson ist seit 2015 bei Tunecore.
Andreea Gleeson ist seit 2015 bei Tunecore.Tunecore

Künstler, die ihre Musik in Eigenregie veröffentlichen, haben laut dem britischen Analysehaus Midia Research 2021 rund 1,5 Milliarden Dollar an Umsatz generiert. Auch dieser Wert wächst stetig. Dazu passen die hauseigenen Tunecore-Statistiken: Stand Anfang Dezember hat der Dienst seit dem Start in 2006 eigenen Angaben zufolge 3 Milliarden Dollar an die Nutzer aus der Vermarktung ihrer Aufnahmen ausgezahlt. Im April war noch von 2,5 Milliarden Dollar die Rede gewesen.

Weniger Hürden, noch mehr Konkurrenz um Hörer

Auf wie viele Nutzer sich die Einnahmen verteilen, verrät das Unternehmen nicht. Gleeson sagt nur so viel: „Tunecore ist eine reine Technologie-Plattform für den Digitalvertrieb, 40 Prozent unserer Nutzer sind Labels oder Künstler-Manager, 60 Prozent sind Musikerinnen und Musiker selbst.“ Mit der Meldung über die 3 Milliarden verschickte Tunecore zudem einige weitere Datenhäppchen. Demnach kommen mehr als 8000 Tunecore-Künstler seit 2006 auf mehr als 10.000 Dollar, „Tausende“ auf Einnahmen zwischen 50.000 und 100.000 Dollar und „viele“ auf mehr als eine Million Dollar. Stattliche Werte, die aber stets im Verhältnis zu betrachten sind. Zwar gehen die Einnahmen direkt an die Künstler und werden nicht mit einem Label geteilt. Doch auf wie viele Köpfe sich beispielsweise bei einer Band das Geld verteilt oder wie viel eigenständige Künstler etwa für Marketing-Dienstleistungen ausgeben, sind nicht zu unterschätzende Faktoren. Und generell gilt: Mit dem einfacheren Zugang zum Markt für Musikaufnahmen geht auch eine viel größere Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Musik-Fans einher.

Folglich ist das Argument, heute brauche es für einen nachhaltig erfolgreichen Werdegang erst recht starke, externe Partner, nicht komplett von der Hand zu weisen. Die Zusammenarbeit ist freilich vielfach loser als früher, wo es eher die Regel war, dass sich ein Label im Austausch für die Rechte an der Musik und einen großen Teil der Tantiemen, um so gut wie alles kümmerte. Die Tunecore-Muttergesellschaft Believe ist so einer der führenden Anbieter auf dem Markt für „Artist & Label Services“. In verschiedenen Stufen bietet das Unternehmen über den reinen Vertrieb hinaus alle anderen Services an, und über das „Signed by“ genannte Programm hätten schon „mehr als 400 vormalige Tunecore-Acts“ einen Service-Deal mit einer Believe-Gesellschaft unterschrieben, sagt Gleeson.

Auch die Majors genannten großen drei der Branche – Universal, Sony und Warner – buhlen natürlich längst um die Gunst von Künstlern, die Wert auf etwas mehr unternehmerische Unabhängigkeit legen. Auch große Vertriebssparten für konzern-fremde Labels finden sich bei den Majors, die teils prominente Kunden vorweisen können. Warner vertreibt über seinen ADA genannten Vertriebsarm beispielsweise die Veröffentlichungen der Musiksparte des Bertelsmann -Konzerns. BMG ist das viertgrößte Musikunternehmen der Welt, wenngleich der Verlagsbereich mit Blick auf den Umsatzanteil wichtiger ist als das Labelgeschäft.

Sollen alle Streams gleich vergütet werden?

Den Markt für einzelne Künstler, die ausschließlich einen Partner für den digitalen Vertrieb ihrer Werke suchen, sei aber weniger im Fokus, sagt Gleeson: „DIY-Vertrieb ist ein spezielles Feld. Ich habe früher im Handel gearbeitet, und ein Dienst wie Tunecore weist viele Parallelen zum E-Commerce auf, mit einem starken Fokus auf Nutzer-Erfahrung und die bestmögliche technische Lösung – das sind keine Felder, in denen die Majors zu Hause sind.“ Das Aus für Universals Dienst Spinn­up habe sie daher nicht allzu sehr überrascht, auch über Level von Warner Music rede kaum noch jemand.

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Die Zurückhaltung der Branchenriesen auf diesem Marktsegment,passt zur jüngsten Debatte rund um die zukünftige Ausgestaltung der lukrativen Streamingwelt. Universal-Chef Grainge hatte schon Ende Oktober argumentiert, täglich 100.000 neue Songs auf den Streamingdiensten seien nicht gut für Plattformen und Nutzer gleichermaßen. Letztere stießen so vermehrt auf Inhalte in schlechter Qualität – anstatt auf hochqualitative Veröffentlichungen wie – natürlich – aus dem Universal-Katalog. Primär für den Zugang zu solchen „großartigen“ Werken zahlten Verbraucher ja schließlich auch für ein Streaming-Abo. Ende November legte er noch einmal nach, als er im Zuge der Universal-Beteiligung am Musikunternehmen PIAS erklärte, die „wichtige Unterscheidung in unserer Industrie“ sei heute die zwischen denen, die sich dem Aufbau von Künstlern verschrieben, gegenüber jenen, die „Quantität über Qualität“ stellten.

Gleeson hält naturgemäß wenig von dieser Sicht der Dinge, schließlich ist die Masse von in vielerlei Hinsicht völlig unterschiedlichen Songs ganz im Interesse von Tunecore und überhaupt: „Der nächste Ed Sheeran könnte unter diesen 100 000 Songs zu finden sein, die Tag für Tag auf Spotify und Co hochgeladen werden“, sagt die Tunecore-Chefin. „Ich sehe daher in dieser Menge überhaupt kein Problem, im Gegenteil.“ Die Plattformen würden ohnehin immer besser darin, die richtige Musik zu den richtigen Hörern zu bringen.

„Am Ende entscheiden die Hörer, was ihnen gefällt“

Deezer-Chef Jeronimo Folgueira hat sich dagegen gerade auf die Seite von Grainge geschlagen. Dieser habe einen Punkt mit Blick auf die große Menge an Musik, so der Deezer-Chef gegenüber der F.A.Z. Es sei wirklich schwierig, neue Musik gezielt zu entdecken, „obwohl wir alle sehr gute Empfehlungen liefern. Und es ist deshalb auch immer schwerer für neue Künstler, eine Hörerschaft aufzubauen.“ Für die Dienste ist die Flut an neuer Musik auch mit Blick auf ihre Hosting-Kosten ein Thema. Folgueira plädierte obendrein dafür, nicht mehr alle Streams gleich zu vergüten, und nannte „White Noise“ als ein seines Erachtens problematisches Beispiel. Aktuell werde ein solcher Track „bei der Abrechnung genauso behandelt wie der Song eines Grammy-Preisträgers, und das darf einfach nicht sein.“ Der einzige relevante Wert für die Abrechnung ist derzeit tatsächlich die 30-Sekunden-Marke. Erst ab dann wird ein Stream vergütet, werbefinanzierte fließen anders ein als jene von Abonnenten.

Für Gleeson sind solche Vorstöße grundsätzlich nicht neu: „Wir wissen, dass die Majors eine bessere Vergütung für die Streams ihrer großen Stars im Vergleich zu DIY-Artists gefordert haben“, sagt sie. „Wir sind aber sehr zuversichtlich, uns da behaupten zu können, unter anderem weil Believe die Lizenzverträge mit den Plattformen direkt verhandelt, keinen Mittelsmann einsetzt und weil wir mittlerweile auch einen durchaus großen Katalog repräsentieren.“ Viele Songs respektive Künstler zu vertreten ist ein nicht zu unterschätzendes Faustpfand in der wechselseitigen Abhängigkeit der Dienste und der Musikindus­trie. „Am Ende entscheiden die Hörer, was ihnen gefällt“, sagt Gleeson. „Warum sollte ein Artist oder Creator schlechter vergütet werden, nur weil der Aufwand in einigen Fällen geringer sein mag als beispielsweise bei Indie-Rock?“ Auch ob jemand seine Werke selbst vertreibe oder nicht, solle keine Rolle spielen, sagt sie und verweist auf das Beispiel Nine Inch Nails – Trent Reznors bekanntes Projekt, für das er schon früh Tunecore nutzte.

Die Qualitäts- und Vergütungsdiskussion dürfte die Branche weiter beschäftigen, jene rund um die Auszahlungsart der Streamingdienste ohnehin. Ein Ende der Songschwemme ist aber fürs Erste wohl kaum in Sicht, auch weil der Markt weiter zulegt. „Asien wird perspektivisch der größte Musikmarkt der Welt sein“, sagt Gleeson, „wir wachsen dort sehr stark, aber wir sehen auch noch viel Potential in Europa, Lateinamerika oder Afrika.“