Verlagsspezial

Digitale Medizin in Deutschland: eine Parallelwelt

Von Anna Seidinger
Lesezeit: 12 Min.
Die Digitalisierung betrifft jeden Lebensbereich, jedes Arbeitsumfeld und jede Branche. Auch das Gesundheitswesen steht vor großen Veränderungen durch digitale Technologien, Big Data und Künstliche Intelligenz. Fünf Experten aus Klinik, Versorgung und aus IT-Start-ups äußern sich zu den aktuellen Entwicklungen und den notwendigen Schritten, damit Deutschland von den Möglichkeiten der digitalen Medizin stärker profitieren kann.
Dr. Katharina Jünger, CEO TeleClinic GmbH
Dr. Katharina Jünger, CEO TeleClinic GmbH
Dr. Katharina Jünger, CEO TeleClinic GmbHTeleClinic
Welche Fortschritte sehen Sie im Allgemeinen in der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen und im Speziellen in der Dermatologie?

Im Bereich der Dermatologie können digitale Technologien in mehrfacher Hinsicht Fortschritte bringen. Insbesondere bei der Forschung und Diagnose als auch im Bereich der Behandlung. Beispielsweise könnten durch die Digitalisierung medizinischer Aufnahmen und Krankheitsdaten Forscher und Ärzte auf Millionen anonymisierter Fallbeispiele zurückgreifen und so Krankheiten und deren Symptome besser erforschen. Es hapert hier allerdings an einer mutigen Umsetzung. Immer noch herrschen Vorbehalte. Auch im Bereich Diagnose sind technologisch wesentliche Fortschritte erzielt. So können intelligente Bilderkennungsprogramme heute schon Aufnahmen krankhafter Hautveränderungen sehr genau analysieren und Ärzte bei der Diagnose unterstützen. Je mehr Bilddaten diesen Programmen zum Abgleich zur Verfügung stehen, desto genauer sind die Analysen. Zudem untersucht der Arzt oft mit bloßem Auge, eine Software ist in der Lage, digitalisierte medizinische Aufnahmen pixel­genau auszuwerten, und sieht damit mehr als das menschliche Auge. Hautkrankheiten eignen sich zudem gut für eine Ferndiagnose und -behandlung. Arzt und Patient sitzen sich hier nicht direkt, sondern am PC gegenüber. Der Arzt nimmt die Hautveränderungen über den Bildschirm in Augenschein oder schaut sich Aufnahmen an, die der Patient schickt. Das erspart den Gang in die Arztpraxis oder lange Wartezeiten auf einen Facharzttermin. Die Digitalisierung erlaubt auch eine engmaschigere ärztliche Betreuung. Sollten sich Veränderungen ergeben, können Patienten Aufnahmen schicken. Das versetzt Ärzte in die Lage, den Krankheitsverlauf genau zu überwachen, ohne dass Patienten jedes Mal in der Praxis vorstellig werden müssen. Ein großer Fortschritt in dieser Hinsicht ist auf jeden Fall das digitale Rezept, mit dem Patienten schneller und einfacher an die von ihnen benötigten Medikamente kommen, ohne die Praxis aufsuchen zu müssen. Leider doktern viele Menschen bei Hautausschlägen erst einmal selbst herum. Indem Dermatologen über die Online Videosprechstunde ohne Aufwand und jederzeit digital konsultiert werden können, könnten sicherlich viele unzutreffende Eigendiagnosen und -behandlungen vermieden werden.


Welche Herausforderungen sind in Deutschland zu bewältigen, damit die Potentiale von digitaler Technologie, Big Data und Künstlicher Intelligenz genutzt werden können?

Das deutsche Gesundheitswesen ist stark reguliert – nichts geht ohne Verordnungen, Abrechnungsziffern oder aufwendige Zulassungs- und Evaluierungsverfahren. Diese dauern oft sehr lange, weil die regulatorischen Hürden hoch sind und die administrativen Mühlen langsam mahlen. Das führt dazu, dass Patienten noch nicht wirklich von den digitalen Innovationen großflächig profitieren können. Immer noch laufen viele Dinge in Arztpraxen analog und via Papier. Einer Umfrage zufolge bevorzugen Ärzte immer noch Fax und Brief, wenn sie mit Patienten oder Kostenträgern kommunizieren, obwohl heute in nahezu allen Branchen die digitale E-Mail dominiert. Das System hinkt also der technologischen Entwicklung hinterher und ist derzeit nicht wirklich innovationsfreundlich. Interessenkonflikte zwischen Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen bremsen zudem den digitalen Fortschritt aus.

 
Was sind die nächsten Schritte, die Sie für notwendig halten, damit Deutschland den Anschluss nicht verliert beziehungsweise Boden gutmachen kann?

Das Klima muss konsequent und auf allen Ebenen innovationsfreundlicher werden. Kostenträger, Versorger, Spitzenverbände und Politik – alle Akteure des Gesundheitssystems sollten offener für Innovationen werden und bei der Digitalisierung an einem Strang ziehen. Dabei geht es darum, neue digitale Verfahren in den Praxen zu etablieren und diese bei den Krankenversicherungen erstattungsfähig zu machen, damit Patienten sie nutzen können. Es muss ein gemeinsamer Konsens her. Wer den Status quo aufrechterhalten will, verhindert den Fortschritt.

Felix Rademacher, Gründer coliquio GmbH und medflex
Felix Rademacher, Gründer coliquio GmbH und medflex
Felix Rademacher, Gründer coliquio GmbH und medflexAnatol Kotte
Welche Fortschritte sehen Sie im Allgemeinen in der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen und im Speziellen in der Dermatologie?

Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst klären, wo Digitalisierung überhaupt sinnvoll ist. Denn Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Welchen Nutzen hätte es etwa für die Patienten, das herkömmliche Wartezimmer beim Arzt zu digitalisieren? Natürlich keinen. Anstatt dem Bestehenden einfach eine digitale Form zu geben, kommt es bei der Digitalisierung darauf an, ganz neu zu denken. Um beim Beispiel zu bleiben: Viel nützlicher als ein virtuelles Wartezimmer ist für Patienten ein digitaler Chat, über den sie sich mit ihrem Arzt austauschen können – denn dann ist auf einmal gar kein Wartezimmer mehr nötig. Das ist in diesem Kontext dann eine digitale Disruption.

Gerade im telemedizinischen Bereich tut sich zurzeit einiges im Gesundheitswesen. Hier gibt es einige sinnvolle Anwendungen, die sowohl dem Arzt als auch dem Patienten den Alltag erleichtern. Dazu gehört etwa der digitale Austausch zwischen ihnen oder das Speichern der Gesundheitsdaten, wie es manche Apps ganz gut machen. Auch speziell in der Dermatologie gibt es vielversprechende Entwicklungen, zum Beispiel eine Virtual-Reality-Brille, die bei der Diagnostik von Schuppenflechte unterstützen kann. Zudem hat eine internationale Studie ergeben, dass Dermatologen Hautkrebs in über 89 Prozent der Fälle anhand von Smartphone-Fotos von Patienten diagnostizieren konnten. Ich gehe davon aus, dass sich in diesem Bereich in den nächsten Jahren viel tun wird.

Welche Herausforderungen sind in Deutschland zu bewältigen, damit die Potentiale von digitaler Technologie, Big Data und Künstlicher Intelligenz genutzt werden können?

Leider ist das deutsche Gesundheitswesen immer noch sehr stark reguliert. So ist es beispielsweise enorm schwierig, für die neuen digitalen Anwendungen geeignete Bezahlsysteme zu finden. Zwar hat es bei den Abrechnungsziffern in der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) und dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) erste Fortschritte gegeben. Dennoch sind beide Systeme immer noch stark beschränkt. Eine Ausnahme ist beispielsweise die Videosprechstunde, die allerdings nach meiner Erfahrung fast kein Arzt anbietet. Das kann ich auch gut nachvollziehen, denn der Arzt müsste zur exakt gleichen Zeit online verfügbar sein wie der jeweils zu behandelnde Patient. Das würde einen erheblichen Mehraufwand für den Arzt bedeuten, da er sich dann minutengenau takten müsste, was bei der täglichen Behandlung einer großen Anzahl an Patienten praktisch unmöglich ist. Darüber hinaus nehme ich durch die aktuellen Diskussionen zur Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) eine große Verunsicherung wahr. Manche schrecken momentan vor allem zurück, was mit der Verarbeitung von Daten zusammenhängt. Hier ist es wichtig, konkrete Erfahrungen im Umgang mit der DSGVO zu sammeln, um zu sehen, worauf es in der Praxis zu achten gilt.

Was sind die nächsten Schritte, die Sie für notwendig halten, damit Deutschland den Anschluss nicht verliert beziehungsweise Boden gutmachen kann?

Die dafür notwendigen Innovationen kommen häufig von Start-ups. Für diese Start­ups benötigt man deutlich mehr verfügbares (Risiko-)Kapital in Deutschland. Die Vereinigten Staaten sind hier ein ganzes Stück voraus. Umso wichtiger ist es meiner Ansicht nach, dass man Start-ups die notwendigen Freiräume gibt, um Neues auszuprobieren – gerade im sonst so stark regulierten Gesundheitswesen. Da schadet es sicherlich nicht, wenn sich in den Institutionen auch eine gewisse Start-up-Mentalität etabliert. Und für die Pharmabranche werden Co-Creation-Partnerschaften mit Start-ups immer wichtiger werden: Diese entwickeln innovative „Beyond the Pill“-Lösungen, die von Pharmaunternehmen als Ergänzung bestehender Produkte genutzt werden können und neue Vermarktungs- und Distributionskanäle eröffnen.

Dr. Alexander Schachinger, Geschäftsführer EPatient RSD GmbH
Dr. Alexander Schachinger, Geschäftsführer EPatient RSD GmbH
Dr. Alexander Schachinger, Geschäftsführer EPatient RSD GmbHPrivat
Welche Fortschritte sehen Sie im Allgemeinen in der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen und im Speziellen in der Dermatologie?

Die Muster, wie sich Technikinnovationen in der Gesellschaft verbreiten, sind seit Jahrhunderten immer die gleichen: Eine Innovation ist anfänglich immer teuer, kompliziert und wenigen Nutzern vorbehalten. Beispielsweise nutzten reiche Adlige als Erste Fahrräder vor über 200 Jahren. Mit der Zeit wird die Technologie besser, günstiger und einfacher zu bedienen. Entsprechend werden Smartphones mit teilweise über zehn Sensoren in ihrer Standardhardware mit ihren elektromagnetischen und bildgebenden Dia­gnostikmöglichkeiten ein neuer Akteur in der Diagnostik und Therapie auch in der klinisch-medizinischen dermatologischen Diagnostik. Das Smartphone wird somit Schritt für Schritt ein Wettbewerber für die Medizintechnik im Diagnostikmarkt.

Was seit wenigen Jahren als Trend auf dem digitalen Gesundheitsmarkt zu beobachten ist: Webbasierte Diagnostik- und Therapielösungen verbreiten sich aus dem Netz zunehmend in die breite Öffentlichkeit. Start-ups beginnen, mit Werbung in Print- und Rundfunkmedien oder mit Außenwerbung ihre Produkte zu vertreiben.

Die Zahlungsbereitschaft bei Gesunden wie bei Patienten für Smartphone-basierte Gesundheitsanwendungen nimmt jährlich zu, ebenso in ersten Schritten der klinisch geprüfte Wirkungsnachweis. Durch das Abfotografieren eines Hautareals mit dem Smartphone können Patienten dermatologische Diagnostiken eigenständig durchführen und die Ergebnisse direkt mit einem Online-Dermatologen besprechen. Szenarien dieser Art entstehen auf internationaler wie nationaler Ebene, exemplarische Akteure in diesem Segment sind beispielsweise „First Derm“ aus den Vereinigte Staaten oder „Skinvision“ aus Holland.

Welche Herausforderungen sind in Deutschland zu bewältigen, damit die Potentiale von digitaler Technologie, Big Data und Künstlicher Intelligenz genutzt werden können?

Die wesentliche Herausforderung besteht aktuell in der Verflechtung von zwei getrennten Parallelwelten. Das sogenannte Zwei-Welten-Dilemma für den Patienten besteht zum einen aus der Welt digitaler Gesundheitsanwendungen mit über 5000 Websites, Apps und Start-ups und zum anderen aus der analogen, mit der ersten Welt so gut wie überhaupt nicht vernetzten Welt der traditionellen medizinischen Versorgungseinrichtungen, wie beispielsweise den Arztpraxen, den Apotheken und den Kliniken. Dabei zeigen Untersuchungen, dass sich der Patient seinen digitalen Therapiebegleiter von seinem Arzt wünscht. Die Politik sowie die Regulatoren des deutschen Gesundheitssystems stehen seit Jahren vor der schwierigen Herausforderung, diese beiden Welten zu verflechten.

Was sind die nächsten Schritte, die Sie für notwendig halten, damit Deutschland den Anschluss nicht ­verliert beziehungsweise Boden ­gutmachen kann?

Wir brauchen in erster Linie eines direkt und schnellstmöglich: mehrere agile, kleine Evaluationen und Feldtests von digitalen Gesundheitsanwendungen, welche direkt mit der ambulanten medizinischen Versorgung vor Ort verknüpft sind, also beim Arzt und Apotheker vor Ort.

Derzeit verhindern viele Regulationen, kaum vereinbare Zuständigkeiten, Datensilos und Partialinteressen eine Integration von digitalen Versorgungslösungen. Im Rahmen wissenschaftlich begleiteter Evaluationen können Best Practice und Evidenzen sowie erfolgreiche Modelle überprüft werden. Die damit verbundene Herausforderung ist, einen Methodenansatz zu wählen, welcher unorthodox, handlungspraktisch und mit schrittweise wachsenden Evidenzen arbeitet. Solche Methoden, speziell für die agile Erforschung digitaler Therapielösungen, sind im Ausland schon wissenschaftlich wie praktisch erforscht.

Dr. Klaus Strömer, Präsident, Bundesverband der Deutschen Dermatologen (BVDD)
Dr. Klaus Strömer, Präsident, Bundesverband der Deutschen Dermatologen (BVDD)
Dr. Klaus Strömer, Präsident, Bundesverband der Deutschen Dermatologen (BVDD)BVDD
Welche Fortschritte sehen Sie im Allgemeinen in der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen und im Speziellen in der Dermatologie?

Wir haben über 100 000 Apps mit medizinischen Inhalten, mehrere Krankenkassen arbeiten neben der Gematik an einer elektronischen Gesundheitskarte, etliche Projekte, die aus dem Innovationsfonds bezahlt werden, versuchen sich in der intensiveren Nutzung der neuen Technologien. Die Dermatologie ist mit mehreren erfolgreichen bundesweiten und regionalen Modellversuchen zum Beispiel zur Videosprechstunde, einer Telemedizin-Leitlinie zur Sicherung der medizinischen Qualität und in ihren Leitgedanken im Kanon der ärztlichen Disziplinen führend aufgestellt. Es gibt gefühlt jede Woche irgendwo in Deutschland ein bedeutendes Symposion, einen Kongress oder größeren Workshop zum Thema Telemedizin. Aber die Vernetzung mit den Strukturen des deutschen Gesundheitswesens, namentlich der Versorgung unserer 80 Millionen gesetzlich Versicherten, steht aus. Seit Jahren beobachte ich am Frontend keine nennenswerten Fortschritte, die über einen Modellstatus hinausgekommen wären und flächendeckend der Bevölkerung zugutekämen. Reale Gesundheitsversorgung auf der einen Seite und Patientenwünsche, Vorstellungen von Ärzten, technische Möglichkeiten, gesetzliche Vorgaben und wohlfeile Lippenbekenntnisse aus Politik und Selbstverwaltung sind noch immer so weit voneinander entfernt wie zu der Zeit, als ich Anfang der 90er Jahre karteikartenlos in meiner Praxis gestartet bin.

Welche Herausforderungen sind in Deutschland zu bewältigen, damit die Potentiale von digitaler Technologie, Big Data und Künstlicher Intelligenz genutzt werden können?

Fast zwei Jahre nach Einführung der Videosprechstunde in die gesetzliche Versorgung sind bundesweit im zweiten Quartal 2018 nicht einmal hundert Videosprechstunden durchgeführt worden. Seit zehn Jahren wird in Deutschland vergeblich versucht, eine sichere Datenübertragung im Medizinbetrieb zu bewerkstelligen. Es reicht nicht, eine gute Idee in einem Gesetz zu verankern. Patienten haben weiter Angst, den persönlichen Kontakt zum Arzt zu verlieren und ihre empfindlichen Gesundheitsdaten ins Netz zu stellen. Leistungserbringer brauchen eine Motivation, um Veränderungen mit zu gestalten, und die IT-Branche braucht Rahmenbedingungen, die der disruptiven Entwicklung ihrer Branche gerecht werden. Die technischen Möglichkeiten entwickeln sich bei weitem schneller als die Fähigkeiten unserer Gesellschaft, sich an derart rasche Veränderungen adäquat anzupassen. Behördliche Regulation, deutsches Sicherheitsdenken, detailverliebte Gesetzgebung, Zukunftsängste und auch wirtschaftliche Interessen Beteiligter scheinen nicht kompatibel zu sein mit einer zeitgemäßen Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme und speziell dem Gesundheitswesen.

Was sind die nächsten Schritte, die Sie für notwendig halten, damit Deutschland den Anschluss nicht verliert beziehungsweise Boden gutmachen kann?

Digitalisierung verändert unseren Planeten derart grundlegend, dass sie zu einer erheblichen Veränderung der Gesellschaft und deren Gefüge führt. Deutsche neigen dazu, lieber den kristallinen Kältetod der Perfektion zu sterben, als Veränderung aktiv zu gestalten. Wir brauchen eine ergebnisoffene und ehrliche gesamtgesellschaftliche Diskussion zur Frage der Nutzung neuer Medien mit all ihren Chancen und Gefahren. Es ist höchste Zeit, grundsätzliche Fragen zu stellen. Dazu gehört für mich die Nutzungshoheit über Big Data durch die Gemeinschaft, nicht durch globale Konzerne. Dafür braucht es gesetzliche Rahmenbedingungen. Es braucht mehr Diskussion über das Sinnvolle als über das technisch Machbare, mehr Mut als Bedenkenträgerei. Eine isolierte Betrachtung der Telemedizin in der Gesundheitsversorgung ist längst nicht mehr zielführend und kann nicht gelingen, wenn kein allgemeiner Konsens zum Umgang mit Daten zum Wohle der Gesellschaft stattfindet.

Dr. Alexander Zink, MPH, Oberarzt Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
Dr. Alexander Zink, MPH, Oberarzt Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
Dr. Alexander Zink, MPH, Oberarzt Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität MünchenKlinik für Dermatologie der TUM
Welche Fortschritte sehen Sie im Allgemeinen in der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen und im Speziellen in der Dermatologie?

Praktisch täglich werden neue technische Entwicklungen und Errungenschaften vorgestellt, die sich im medizinischen Bereich einsetzen lassen. Dazu gehören Medizin-Apps und sogenannte Gadgets oder Wearables, mit denen wir die verschiedensten Körperfunktionen sekundengenau messen, dokumentieren und auswerten können. Das umfasst auch trainierte neuronale Netzwerke, die Muttermale bereits heute ähnlich gut wie Hautärzte in gutartig und bösartig einteilen können, bis hin zu den heutigen Möglichkeiten mit Fernübertragung digitaler Daten. An dieser Stelle hat wahrscheinlich jeder seine ganz eigene Liste spannender neuer digitaler Technologien. Einer der größten damit verbundenen Fortschritte speziell in der Dermatologie ist wahrscheinlich aber ein vor kurzem erschienener Leitfaden, der in einer interdisziplinären Konsensusgruppe erarbeitet wurde. Dieser hält fest, wie die in Deutschland gewohnte fachärztliche Qualität in einer digitalisierten Medizin inklusive Telemedizin im Bereich der Dermatologie beibehalten werden kann und was deren Risiken und Grenzen sind. Als erste Tele-Guidance überhaupt nimmt dieser digitale dermatologische Fortschritt somit eine Vorreiterfunktion auch für andere medizinische Disziplinen und vielleicht darüber hinaus ein.

Welche Herausforderungen sind in Deutschland zu bewältigen, damit die Potentiale von digitaler Technologie, Big Data und Künstlicher Intelligenz genutzt werden können?

Bei einem komplexen Gesundheitssystem wie in Deutschland mit seinen historisch gewachsenen Strukturen und Besonderheiten sowie dem deutschen Rechtssystem gibt es naturgemäß eine Vielzahl an Herausforderungen, bevor die digitalen Möglichkeiten in der Praxis umgesetzt werden können, dürfen und sollen. Ein Neubau eines Gebäudes wird ja auch immer schneller, einfacher und kostengünstiger auf einer grünen Wiese zu realisieren sein als in einem historischen Zentrum einer deutschen Altstadt mit römischer Geschichte. Dementsprechend muss für digitale Technologien, Künstliche Intelligenz und Big Data beispielsweise erst der rechtliche Rahmen abgesteckt werden und spezifische Anforderungen, aber auch Grenzen der Anwendbarkeit eindeutig spezifiziert und auch die Rolle dieser Technologien für die Pflichtkrankenversicherungen in Deutschland definiert werden. Wer ist zum Beispiel der Leistungserbringer bei Künstlicher Intelligenz, und wer bezahlt diese? Wer trägt die Verantwortung, wenn ein mittels Künstlicher Intelligenz diagnostizierter Befund falsch war oder ein anderer Fehler begangen wurde? Wer und wie darf mit den Daten eines Individuums umgehen beziehungsweise umgegangen werden, die kontinuierlich über Gesundheits- oder Smart-Home-Apps gesammelt werden? Und dürfen diese beispielsweise für Beitragsberechnungen herangezogen werden?

Was sind die nächsten Schritte, die Sie für notwendig halten, damit Deutschland den Anschluss nicht verliert beziehungsweise Boden gutmachen kann?

Etwas langsamer, dafür aber nachhaltiger als andere zu sein ist per se ja nicht verkehrt. Denn wenn die oben genannten Herausforderungen zügig, vor allem aber umfassend angegangen werden, können die neuen Technologien auch im deutschen Gesundheitssystem nachhaltig zum Wohle des Patienten eingesetzt werden. Der technische Fortschritt lässt sich nicht aufhalten. In den kommenden Jahren werden immer schneller und immer weiter technisierte Entwicklungen hervorgebracht werden, die uns vor immer neue Fragestellungen stellen. Entscheidend ist dabei nicht, wie schnell wir diese einsetzen können, sondern vielmehr, ab wann wir diese tatsächlich einsetzen wollen – im Interesse des Patienten, unser aller sowie ohne vermeidbare Begleitschäden und mit überschaubarem Risiko, also ganz ähnlich wie bei der Zulassung eines neuen Medikaments.

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