Ökonom Adam Smith :
Der Missverstandene

Von Stefan Kolev
Lesezeit: 6 Min.
Adam Smith, vor 300 Jahren geboren, war der  Vater der modernen  Volkswirtschaftslehre.
Der Schotte Adam Smith gilt als Revolutionär des ökonomischen Denkens. Dabei lagen ihm bedächtige Reformen immer näher als der große Umsturz. Ein Gastbeitrag.

Dieser Tage wird weltweit der 300. Geburtstag von Adam Smith gefeiert. Wir kennen den Tag von Smiths Geburt tatsächlich nicht genau, sondern lediglich den Tag seiner Taufe – und dieser ist nach dem heute gängigen Kalender am 16. Juni. Überhaupt wissen wir über Smith als Mensch weniger als über andere große Denker. Was wir wiederum über sein Werk wissen, ist vielfach so sehr von Stereotypen und Vereinfachungen überwuchert, dass man dem großen Denker kaum gerecht wird.

Ein häufig anzutreffendes Stereotyp ist, Smith habe das ökonomische Denken revolutioniert, ja gar erfunden. Oder er habe mit seinem Werk die industrielle Revolution anstoßen wollen. Bei aller Wirkungsmacht bereits zu Lebzeiten: Smith war kein Revolutionär, sondern vor allem Reformer. Und das sowohl im Hinblick auf das zeitgenössische wissenschaftliche Denken als auch auf die graduellen Reformen der Wirtschaft, die er seinen Lesern empfahl. Von dieser Smith’schen Skepsis gegenüber Revolutionen kann auch unsere Zeit profitieren.

Die Schottische Aufklärung, zu der Smith wesentlich beitrug, unterschied sich in vielfacher Hinsicht von ihrem Pendant in Frankreich. Ein besonders wichtiger Aspekt: Was traut man als Aufklärer der Vernunft zu – und was nicht? Die Franzosen waren da sorgloser als die Schotten.

Menschen sind keine Schachfiguren

In seiner „Theory of Moral Sentiments“, deren Erstauflage von 1759 Smith europaweit berühmt machte, findet sich eine Passage, wie gesellschaftlicher Wandel auf zwei verschiedenen Wegen erreicht werden kann. Darin kontrastiert Smith den in den eigenen Urteilen von Tugenden geprägten politischen Akteur mit dem „man of system“. Letzterer wähnt sich im Besitz einer vermeintlichen Weisheit, die er aber mit Anmaßung verwechselt. Die Grenze zur Anmaßung ist überschritten, weil der „man of system“ „oft so in die vermeintliche Schönheit seines eigenen idealen Regierungsplans verliebt ist“, dass er dabei nicht die geringste Abweichung von diesem Plan zu dulden bereit ist.

Das Vergehen des anmaßenden Planers besteht darin, die Komplexität der anonymen Großgesellschaft zu verkennen. Er sieht die Mitglieder dieser Gesellschaft bloß als Schachfiguren im Griff seiner Hand, als wenn „die Figuren auf dem Schachbrett kein anderes Bewegungsprinzip haben als das, das die Hand ihnen aufdrückt“. Er denkt aber nicht daran, „dass auf dem großen Schachbrett der menschlichen Gesellschaft jede einzelne Figur ein eigenes Bewegungsprinzip hat“.

In der „Theory of Moral Sentiments“ und im 1776 erstmals erschienenen „Wealth of Nations“ befasst sich Smith gerade mit den von diesen Prinzipien ausgelösten Prozessen – wie Menschen auch dank ihrer Interaktionen moralische Urteile fällen und in welchen Prozessen ihre wirtschaftlichen Interaktionen ablaufen. Mit dem „Wealth of Nations“ gelingt ihm eine Weiterentwicklung des zeitgenössischen ökonomischen Denkens, das er systematisiert und bedächtig reformiert. In diesem Zusammenhang zeigt Smith, dass mit dem Aufkommen der Großgesellschaft der Gestaltungsanspruch des Planers bescheidener als in früheren Gesellschaftsformen ausfallen muss.

„Kants Liebling“

Seine Reformanregungen waren wirkungsmächtig – weit über Schottland hinaus. Die praktische Wirtschaftspolitik nutzte sie bald, in Preußen zum Beispiel in den Stein-Hardenberg’schen Reformen von 1807 an. Smith wurde an den Universitäten Königsberg und Göttingen sehr früh rezipiert (laut einem Schüler Immanuel Kants war Smith „Kants Liebling“) und floss damit in die Beamtenausbildung ein. Die Abschaffung von Privilegien, etwa der Zünfte, kombiniert mit dem Vertrauen, dass die Großgesellschaft innerhalb eines rechtsstaatlichen Ordnungsrahmens durchaus zur Balance und Selbstorganisation fähig ist, erwies sich als bestechendes Narrativ und bleibt bis heute ein zentrales Versprechen des Liberalismus.

Beim Ordnungsrahmen wird die Vorsicht der Schotten und Smiths besonders deutlich. Sie waren, Jahrzehnte vor Charles Darwin, Vordenker der Evolution – vor allem der kulturellen Regeln unseres Miteinanders. Historisch sind wir in viele dieser Regeln hineingestolpert, sie waren unbeabsichtigte Nebenfolgen von Handlungen und haben sich dabei zum Ordnungsrahmen verwoben. Indem verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Regeln leben, kann man von Regeländerungen bei sich und woanders lernen.

Keine Regel ist per se gut, nur weil sie eine Weile Bestand hatte. Viele sind das Ergebnis der Macht von Partikularinteressen, denen Smith stets kritisch gegenüberstand. Aber das Gewebe des Ordnungsrahmens lässt sich nicht durch ein neues Gesamtsystem ersetzen, das ein einzelner Planer am Reißbrett entworfen hat. Wenn wir das Gesamtsystem ersetzen, verlieren wir das damit Gelernte.

Rosa Luxemburg: „Sozialreform oder Revolution“

In den zwei Jahrhunderten nach Smiths Tod kehrte die Frage nach der Ersetzbarkeit dessen, was seit dem 19. Jahrhundert „Kapitalismus“ genannt wird, ständig wieder. Die deutsche Politikerin Rosa Luxemburg brachte es kurz vor der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert auf die berühmte Formel „Sozialreform oder Revolution“ und kämpfte leidenschaftlich für Letzteres.

Zwei Ökonomen spielen in der Geschichte des ökonomischen Denkens eine ähnlich prominente Rolle wie Smith: der vor 140 Jahren verstorbene Karl Marx und der vor 140 Jahren geborene John Maynard Keynes. Ihre Haltung zum Kapitalismus lässt sich gerade durch die Gegenüberstellung Revolution versus Reform gut beschreiben: Marx wollte aufzeigen, warum diese Ordnung nicht zu retten ist, Keynes hingegen, wie sie gerettet werden kann.

Das radikalste Experiment zur Ersetzbarkeit der modernen Großgesellschaft begann nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und bezog wesentliche Inspirationen aus der Kriegswirtschaft. Der planerische Elan, der bei Lenin kurz stockte und während dessen „Neuer Ökonomischer Politik“ durch marktwirtschaftliche Elemente korrigiert wurde, entfaltete unter Stalin seine Blüte – mit den bekannten Folgen für Millionen von Menschen in der Sowjetunion und später auch in anderen Ländern Osteuropas.

Der Vorteil des Ordnungsrahmens ist seine Resilienz

Während nach dem Zweiten Weltkrieg die westlichen Demokratien immer wieder neue Ordnungsformen in Wirtschaft und Gesellschaft ausprobierten und dabei voneinander lernten, blieb das revolutionär andere System der Sowjetunion reformunfähig. In den 1960er-Jahren experimentierte man im Ostblock mit marktwirtschaftlichen Reformen, die in der DDR „Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung“ hießen. Als aber die Tschechen und Slowaken außerdem politische Reformen forderten, marschierten die Truppen des Warschauer Pakts ein. Auch Glasnost und Perestroika der 1980er führten nicht zu neuer Stabilität, sondern zum Kollaps des offenbar reformunfähigen Systems.

Aus diesem historischen Überblick ergeben sich Lehren für heute. Der reformerische Ansatz der liberalen Politischen Ökonomie seit Smith unterstreicht, dass wir durch die graduelle Änderung einzelner Regeln ständig lernen können, wie ein besseres Miteinander möglich ist. Ein anderer Reformer des Kapitalismus, Friedrich August von Hayek, beschrieb den Ordnungsrahmen als Speicher von Wissen, der durch Lernerfahrungen ständig erneuert wird. Wie alles Menschengemachte ist auch dieser Speicher unvollkommen, aber zu wertvoll, als dass man auf die Löschtaste drücken und ihn entsorgen dürfte, wie es Revolutionen tun.

Die Krisen der vergangenen 15 Jahre haben eine seit dem Untergang der Planwirtschaft vergessene Eigenschaft des Ordnungsrahmens wieder aktuell gemacht: dessen Resilienz. Im deutschen Diskurs hat besonders der Princeton-Ökonom Markus Brunnermeier dazu beigetragen, diese Frage nach der Anpassungsfähigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft erneut in den Mittelpunkt zu rücken. Bei der Bewältigung der Probleme unserer Zeit, auch des Klimawandels, darf die Resilienz nicht ignoriert werden. Wenn etwa Instrumente gewählt werden, die von vielen Bürgern nicht verstanden werden und außerdem zu materiellen Einbußen führen, können diese Bürger der Ordnung die nötigen Anpassungen verweigern und sich eine andere wünschen. An revolutionären politischen Angeboten mangelt es auf beiden Seiten des Atlantiks nicht.

Die beste aller gewesenen Welten

Die Klimakrise hat einen Sturm gegen den Kapitalismus ausgelöst. Die Autorin Ulrike Herrmann scheut in ihrem aktuellen Bestseller nicht davor zurück, die Kriegswirtschaft als Alternative zu preisen. Dass im Krieg ein einziges Ziel gilt, nämlich den Gegner zu besiegen, während im Frieden Millionen von Menschen ihre eigenen Ziele wählen, stört dabei nicht – ebenso wenig wie die ökologische und ökonomische Bilanz der Planwirtschaft im 20. Jahrhundert. Das Verstörende daran ist nicht der Angriff auf den Kapitalismus, sondern die neue Feindseligkeit von links gegen die Demokratie, die in ihrer Abwägung verschiedener Ziele zu langsam bei der Bewältigung des Klimawandels sein könne.

Bei aller Krisenhaftigkeit unserer Zeit: Aus der Sicht der liberalen Politischen Ökonomie leben wir in der besten aller gewesenen Welten – zumal mit Smiths besonderem Fokus auf die Lage der Armen. Nie war der globale Anteil der in Armut Lebenden so niedrig. Natürlich leben wir nicht in der besten aller möglichen Welten. Aber Revolutionen werden uns dieser nicht näherbringen. Aus den letzten Jahrhunderten sollten wir gelernt haben, dass die Marktwirtschaft – eingehegt im ständig reformierten Rahmen von Rechtsstaat und Demokratie – der beste Problemlösungsmechanismus ist. Sie befähigt gewöhnliche Menschen, für sich und ihre Mitmenschen Ungewöhnliches zu vollbringen. Auch für unsere Zeit liegt hier die vielversprechendste Energiequelle.