Klaus Herdings Courbet :
Wer alles anfing

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Guten Tag, Professor Herding! Als Klaus Herding im Jahre 2010 als Gastkurator der Kunsthalle Schirn die Ausstellung „Courbet – Ein Traum von der Moderne“ einrichtete, konnte er auch „La Rencontre“ aus Montpellier nach Frankfurt holen.
Jahrzehntelang forschte der Frankfurter Kunsthistoriker Klaus Herding über Gustave Courbet. Seine Kollegin Regine Prange führt Herdings Interesse am Realismus auf die Folgen von 1968 zurück.

Die fünfte Ausgabe der Documenta, kuratiert von Harald Szeemann, fand 1972 statt und stand unter dem Obertitel „Befragung der Realität – Bildwelten heute“. Der Leitaufsatz des als Loseblattsammlung gestalteten Katalogs bot nichts Geringeres als eine „Kritische Theorie des ästhetischen Zeichens“, verfasst von dem marxistischen Philosophen Hans Heinz Holz. Im ersten Jahrgang der „kritischen berichte“, der Zeitschrift des Ulmer Vereins, der linken Gegengründung zum Kunsthistorikerverband, publizierten Klaus Herding und Hans-Ernst Mittig eine 120 Seiten lange Kritik des Aufsatzes von Holz mit der Überschrift „Ästhetik im Spätkapitalismus“. Sie hielten Holz einen Mangel an Materialismus vor, rügten einen idealistischen, auf Autonomie und Dauer fixierten Kunstbegriff, der Holz davon abgehalten habe, „den Begriff des Charakteristischen im Kunstwerk an bürgerlicher oder sozialistischer Gegenwartskunst zu entwickeln“, Fluxus, Pop Art und Konzeptkunst einerseits und sozialkritischem Realismus andererseits.

Den Befund, „heute anstehende Probleme“ kämen im Documenta-Programm von Holz „notwendigerweise nur verkürzt zur Sprache“, illustrierten Herding und Mittig mit „der Feststellung“ von Holz, „die Kunst Courbets habe mit der heutigen Welt nichts Wesentliches mehr gemein“.

Der paraphrasierte Satz hat folgenden Wortlaut: „Die Welt Courbets stimmt mit der Welt Einsteins, de Broglies und Heisenbergs nicht mehr überein.“ Durch die mathematisierte Physik war nach Holz der Realitätsbegriff der traditionellen Kunst obsolet geworden, die Aufgabe der Abbildung der äußeren Welt. „Was wahrgenommen wird, erweist sich gerade nicht als Wirklichkeit, sondern als Schein.“ Kant hatte laut Holz diese Revolution der Vorstellungsart noch nicht bewirkt: Der „Klassizismus eines Ingres“, aber auch „der Naturalismus eines Courbet“ waren von Kant her gesehen „durchaus“ noch „erkenntnistheoretisch gedeckt“.

Herding und Mittig protestierten gegen das Schubladensystem der Epochenstilbegriffe von Holz: Courbet war für sie ein „Künstler, der versuchte, die Erscheinungswelt als eine widersprüchliche und scheinhafte realistisch darzustellen, der aber kaum den Versuch naturalistischer Schilderung unternahm“.

„Von der Kraft des Widerspruchs“

In einem Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung über 150 Jahre Kunstgeschichte in Gießen unternahm jetzt die Frankfurter Kunsthistorikerin Regine Prange den Versuch, die Leitgedanken der jahrzehntelangen Courbet-Forschungen des 2018 verstorbenen Klaus Herding (der nicht in Gießen, sondern in Hamburg und Frankfurt gelehrt hat) auf die Dialektik des revolutionären Aufbruchs der Jahre nach 1968 zurückzuführen. An zwei Stellen der Holz-Kritik zitierten Herding und Mittig Aufsätze Richard Hiepes aus der DKP-nahen Zeitschrift „tendenzen“, in der Herding 1978 den Courbet-Aufsatz „Von der Kraft des Widerspruchs“ veröffentlichte.

Die 65. Nummer der Zeitschrift mit dem Oberthema „Kunstgeschichte und bürgerliche Herrschaft“ aus dem Jahr 1970 enthält einen Aufsatz Hiepes zur Definition der engagierten Kunst, der als Frontispiz eine Fotografie aus den Tagen der Pariser Kommune verwendet: das Gruppenbild der Revolutionäre, die unter Anleitung Courbets die von einer Napoleon-Statue gekrönte Säule auf der Place Vendôme umgekippt hatten.

In Hiepes Aufsatz konnte Herding den von Hiepe aus dem Courbet-Buch von Louis Aragon übernommenen, von Aragon seinerseits durch Umwertung einer boshaften Bemerkung aus dem Mund von Courbets älterem Kollegen Ingres entwickelten Gedanken finden, das Subversive des Realismus von Courbet, seiner Negation des Ideals, sei nicht im Stofflichen zu finden, sondern in der Zerstörung der hierarchischen Ordnung der Gegenstände im Bild.

War ihm denn nichts heilig? Gustave Courbet sorgte für den kunstgerechten Abbau der Napoleon-Statue auf der Place Vendôme. Auf dieser Fotografie, die an das Trophäenbild einer Jagdgesellschaft denken lässt, steht er (mit Mütze und Vollbart) in der zweiten Reihe vor dem vierten Fenster von rechts.
War ihm denn nichts heilig? Gustave Courbet sorgte für den kunstgerechten Abbau der Napoleon-Statue auf der Place Vendôme. Auf dieser Fotografie, die an das Trophäenbild einer Jagdgesellschaft denken lässt, steht er (mit Mütze und Vollbart) in der zweiten Reihe vor dem vierten Fenster von rechts.Ville de Paris

Diesen Gedanken entfaltete Herding 1974 in seinem Vortrag der Sektion „Realismus“ des Hamburger Kunsthistorikertags, der 1975 im „Städel-Jahrbuch“ erschien. Die Überschrift „Egalität und Autorität in Courbets Landschaftsmalerei“ stellt einen Ausgleich des revolutionären Gedankens durch ein konterrevolutionäres oder bonapartistisches Gegengewicht in Aussicht. Es war nach Herding aber die „antiautoritäre“ Form selbst, die Befreiung der malerischen Mittel, die sich semantischer Eindeutigkeit und agitatorischer Verwendung entzog, so­dass „moralisch-politisches Engagement und dessen künstlerischer Ausdruck“ auseinandertraten.

Herdings künstlerbiographische Pointe: „Courbets Beteiligung an der Com­mune erscheint von daher als Konsequenz einer Einsicht in die Überforderung der Malerei als Organ allgemeiner Veränderung – einer Einsicht, die realistisch genannt werden darf, wenn man das dieser Bezeichnung im Alltag anhaftende resignative Moment mitbedenkt.“

Der Reiz des überaus dichten Vortrags von Regine Prange bestand in der impliziten Parallelisierung von Künstlerleben und Forscherkarriere, in der Suggestion, dass Herdings subtile Bildhermeneutik seine eigene Desillusionierung produktiv machte. Holz hatten Herding und Mittig 1973 vorgeworfen, dass bei ihm die Kunst, indem er „das mimetische Verfahren“ abwerte, „gänzlich folgenlos“ werde. Schon zwei Jahre später schrieb Herding es Courbet als Einsicht gut, dass er sich mit der Folgenlosigkeit seiner Antizipation der Abstraktion abgefunden habe.

Und die Ineinssetzung von Realismus und Resignation, die einen Topos der literaturwissenschaftlichen Realismustheorie reproduzierte, nahm Herding ausdrücklich im Namen des Alltags vor, nachdem er und Mittig Holz vorgehalten hatten, dass für die von ihm angestrebte „Fundierung“ der Kunst „auf den Alltag“ sein Alltagsbegriff zu unscharf sei.