Inzaghis Meisterwerk :
Wie Inter den italienischen Fußballstil weiterentwickelt hat

Von Julius Müller-Meiningen, Rom
Lesezeit: 3 Min.
Meistertrainer: Simone Inzaghi lässt die Zweifler verstummen.
Ausgerechnet im Stadtderby gegen AC gewinnt Inter Mailand seine 20. Meisterschaft. Trainer Simone Inzaghi hat daran großen Anteil. Für ihn ist der Titel auch ein Sieg gegen seine Kritiker.

Wenn in der Serie A der italienische Meister gekürt wird, ist es normalerweise Mai und strahlender Sonnenschein. Inter Mailand hatte es in diesem Jahr aber besonders eilig und sicherte sich den Titel bereits fünf Spieltage vor Saisonende an einem ungemütlichen Aprilabend. Am Montag gelang ein 2:1-Sieg im Stadtderby gegen die AC Mailand.

Mit 17 Punkten Vorsprung ist die Mannschaft von Trainer Simone Inzaghi nicht mehr einzuholen. Es schüttete am Montag in der Lombardei, abends legte sich sogar der berüchtigte Mailänder Nebel über den Rasen im Giuseppe-Meazza-Stadion. Die Stadtrivalen der AC Mailand, nominell die Heimmannschaft, begünstigten die spontanen Feierlichkeiten nicht. Statt „We are the champions“ erklang nach Spielschluss penetrante Techno-Musik.

Inter darf sich nun in der kommenden Saison wieder den Scudetto, den Meisterwimpel in den italienischen Nationalfarben aufs Trikot nähen, dazu einen zweiten Stern, der den 20. Meistertitel der Vereinsgeschichte markiert. Ganz der in inniger Abneigung verbundene Stadtrivale wiesen die Milanisti in der Curva Sud mit einem Banner darauf hin, dass nur 19 der 20 Titel auf dem Spielfeld errungen wurden.

„Inter im Paradies“

Die Meisterschaft 2005/06 war Juventus Turin in Folge des Manipulationsskandals „Calciopoli“ ab- und Inter nachträglich anerkannt worden. Damit blieben die beiden Klubs gleichauf, auch Milan gewann schon 19 Mal. Für solche Spitzfindigkeiten hatte das Siegerteam freilich keine Muße.

Die Überlegenheit im Stadtderby wie in der gesamten Spielzeit war erdrückend. Verteidiger Francesco Acerbi hatte Inter nach einer Vorlage von Benjamin Pavard per Kopfball in Führung gebracht (18. Minute). Marcus Thuram erhöhte in der 49. Minute auf 2:0. Der Anschlusstreffer von Fikayo Tomori (80.) kam zu spät. Drei rote Karten in der Endphase, davon zwei für Milan, zeugten vom tiefen Frust der Unterlegenen. Bei Inter gab es nach dem Schlusspfiff kein Halten mehr. „Inter im Paradies“, titelte die Zeitung Il Messaggero am Dienstag. „Inter in den Sternen“, die Gazzetta dello Sport.

Aus dem Pulk der ausgelassenen Männer stach Trainer Simone Inzaghi, inzwischen leicht ergraut, mit besonders fassungslosem Blick heraus. Der Bruder des legendären Milan-Stürmers Filippo stand schon als Spieler bei Lazio Rom im Schatten anderer. Auch als Trainer musste sich der 48-Jährige besonders mühen. Erst der Einzug Inters in das Champions-League-Finale 2023 ließ die Skeptiker aufhorchen und nahm den jetzigen Triumph vorweg.

In seinem ersten Jahr als Coach in Mailand 2021/22 hatte sein Team kurz vor Schluss noch eine sicher geglaubte Meisterschaft verspielt, der Lokalrivale AC Mailand gewann den Titel. Im vergangenen Jahr standen zwölf Niederlagen und mit dem SSC Neapel ein schier unbezwingbarer Gegner dem Erfolg im Weg. Der Meistertitel ist für Inzaghi auch ein Sieg gegen seine Kritiker.

Erfolgsfaktor: Der ehemalige Gladbacher Marcus Thuram glänzt in Mailand.
Erfolgsfaktor: Der ehemalige Gladbacher Marcus Thuram glänzt in Mailand.dpa

Experten wollen nun bei Inter eine Evolution des auf Stabilität angelegten italienischen Stils erkennen. Inzaghis Mannschaft spielt stets offensiv, verliert dabei aber nie ihr Gleichgewicht. Inter hat die meisten Tore erzielt und die wenigsten bekommen. Es handele sich um „die wahrhafte Weiterentwicklung der besten italienischen Schule“, schrieb der Corriere della Sera.

Neben italienischen Nationalspielern wie Alessandro Bastoni, Nicolò Barella oder Federico Dimarco, die den Fußball Inzaghis verinnerlicht haben, sticht auch Inters Sturmduo hervor. Marcus Thuram, Sohn der Frankreich-Legende Lilian, der im Sommer aus Mönchengladbach zu Inter kam, ergänzt sich bestens mit Kapitän Lautaro Martinez. Der 26-jährige Thuram steuerte bisher zwölf Treffer und elf Torvorlagen bei, Martinez traf schon 23-mal.

Inzaghis Meisterwerk ist nicht genug hervorzuheben, wenn man zudem die wirtschaftlich schwierige Ausgangsposition Inters bedenkt. Die chinesische Eigentümergruppe Suning drücken bei Inter 380 Millionen Euro Schulden. Abgänge wurden vom legendären Sportdirektor Giuseppe Marotta mit gelungenen Transfers aus der Bundesliga (Thuram, Yann Sommer, Benjamin Pavard) oder der Phantasie des Trainers gekontert. So spielt der gebürtige Mannheimer Hakan Calhanoglu seine bisher beste Saison als Regisseur vor der Abwehr und nicht mehr offensiv hinter den Spitzen. Er ersetzt den zu Saisonbeginn nach Saudi-Arabien abgewanderten Spielmacher Marcelo Brozovic.

Auch für Calhanoglu (30) hat sich ein Kreis geschlossen. 2021 wechselte er von der AC Mailand zu Meister Inter, kaum war er weg, gewann Milan den Titel. Der Spott, den er daraufhin bekam, schmerzte offenbar. „Immer ruhig, immer geduldig, immer konzentriert und nun belohnt“, schrieb der Spieler auf Instagram. Dazu postete er ein Bild von sich in Meisterpose, im Hintergrund wütende Milanisti.