Leverkusen feiert :
Unterwegs auf der Xabi-Alonso-Allee

Von Reiner Burger, Leverkusen
Lesezeit: 4 Min.
Viele Leverkusener brauchten eine Weile, um zu realisieren: Ihr Verein hat es endlich geschafft.
Seit Sonntagabend ist klar: Sogar Leverkusen kann deutscher Fußballmeister werden. Doch die Stadt realisiert das Unmögliche nur langsam. Zu Besuch in den Eckkneipen des einstigen Vermeidungsmeisters.

Selbstverständlich bereiten die Fans den Spielern und dem von manchen in Leverkusen schon als Heiligen verehrten Trainer Xabi Alonso vor der BayArena einen rauschenden Empfang. Auf der Bismarckstraße, wo sämtliche Schilder mit der Aufschrift „Xabi-Alonso-Allee“ überklebt sind, begrüßen sie ihr Team am Sonntag mit einem improvisierten Feuerwerk und Konfettiregen. Es ist keine vorgezogene Siegesfeier. So was macht man in Leverkusen nicht. Es ist ein Beschwörungsritual. Denn – verdammt noch mal! – endlich muss das große Werk gelingen: Bayer 04 Leverkusen, der legendäre Vermeidungsmeister, muss endlich das erste Mal deutscher Meister werden! Nichts kann mehr schiefgehen. Wirklich?

Menetekel, selbst kurz vor dem Ziel: Dutzendfach haben Fans in der Autobahnunterführung vor dem Stadion ein Plakat mit der Aufschrift „Ein Traum, Jahr für Jahr – macht ihn endlich wahr“ auf­gehängt. Direkt daneben scheint sich ein Abenteuer-Reiseveranstalter über die Werkself lustig zu machen: „Ständig ein Elefant im Raum?“

Es stimmt ja: Bayer 04 Leverkusen ist der Titel-Elefant im Raum. Der Fluch begann im Jahr 2000, als die Werkself am Ende der Bundesligasaison drei Punkte Vorsprung auf den FC Bayern München hatte, aber dann gegen den Aufsteiger Unterhaching den sicher geglaubten Titel verfehlte. Der Fluch setzte sich über die Jahre und Wettbewerbe hinweg fort: DFB-Pokal, Champions League. Immer wieder wurde Bayer 04 trotz mitreißenden Spiels nur Zweiter – neun Mal insgesamt. Weil man das erst mal schaffen muss, etablierte sich in den Medien und bei gegnerischen Fans der Spottname „Vizekusen“. Schlimmer noch: „Vizekusen“ wirkte wie ein schleichendes Gift in den Seelen der Anhänger. So wird selbst eine Mannschaft wie Werder Bremen zum Angstgegner.

Noch nicht bereit zum ganz großen Jubel

Am Nordeingang des ausverkauften Stadions haben einige Fans den winzig kleinen Fernsehbildschirm hinter dem Gittertor entdeckt. Eine Weile freuen sie sich miteinander, dass sie das hoffentlich entscheidende Spiel nun doch noch ganz nah am Geschehen mit eigenen Augen und nicht nur akustisch verfolgen können. Kaum aber ist die Partie angepfiffen, schleichen sich wieder Zweifel in ihre Gespräche. Stichworte wie „Unterhaching“ genügen, um sich über den gemeinsamen, lang währenden Schmerz zu verständigen. Schließlich meint einer beschwichtigend: „Wenn es diesmal nicht klappt, haben wir ja noch fünf Spiele, noch fünf Matchbälle.“ Sein Gegenüber verzieht das Gesicht: „Bloß nicht verlieren heute, sonst wird das wieder eine Zitterpartie.“

Ein Public Viewing hatte nicht mehr geklappt. Stattdessen verfolgten die Fans außerhalb des Stadions das Spiel auf kleinen Bildschirmen.
Ein Public Viewing hatte nicht mehr geklappt. Stattdessen verfolgten die Fans außerhalb des Stadions das Spiel auf kleinen Bildschirmen.Reiner Burger

Als Victor Boniface in der 25. Spiel­minute einen Elfmeter für die Werkself verwandelt, werden auf den Rängen massenweise silberne Papp-Meisterschalen geschwenkt, und der Jubel breitet sich auch rasch rund ums Stadion aus. In den Überschwang hinein ruft am Nordeingang ein Mann nur halb im Spaß: „Abpfeifen!“ Die Partie müsse jetzt bitte rasch abgepfiffen werden, damit man den Sieg nicht noch gefährde. Bereit zum ganz großen Jubel ist Leverkusen noch nicht. Wenige Hundert Meter vom Stadion entfernt rund um die Rathauspassage ist es selbst in der zweiten Halbzeit noch seltsam still.

Auf den letzten Metern versuchte die Stadt, ein Public Viewing auf die Beine zu stellen. Vergeblich. So konzentriert sich das Mitfiebern auf Lokale mit Streaming-Lizenz wie das „Treff“. Durch ein Fenster der Eckkneipe kann man den Bildschirm sehen. Ein paar Passanten bleiben zur gemeinschaftlichen Traumabewältigung stehen. Schnell breitet sich wieder dieser seltsame Leverkusen-Defätismus aus: damals, „Unterhaching“ und so weiter. „Die haben so viel Geduld, die Jungs“, sagt eine Frau dann bewundernd. „Wenn es heute nicht sein soll, halt kommende Woche.“ Ein Mann wirft ein: „Zum Glück spielt Bremen nicht besser, als es sonst spielt.“ Kein Thema ist merkwürdigerweise das spritzige, druckvolle Spiel der Alonso-Elf, die prompt ihr zweites Tor macht.

Da war kein Halten mehr: Nach dem Schlusspfiff eroberten die Leverkusen-Fans am Sonntagabend den Rasen und feierten die Meisterschaft.
Da war kein Halten mehr: Nach dem Schlusspfiff eroberten die Leverkusen-Fans am Sonntagabend den Rasen und feierten die Meisterschaft.dpa

„Wie lange habe ich darauf warten müssen“

Danach kommt ein junger Mann aus der Eckkneipe gestürmt. „Wir haben es geschafft“, ruft er. „Ich hab die ganzen Jahre den ganzen Mist mitgemacht. Aber jetzt bin ich sicher: Du kannst eine rauchen gehen, ohne dass hinter deinem Rücken alles verloren geht.“ Kaum hat er sich seine Zigarette angesteckt, fällt das 3:0. Sein Kumpel zündet eine Konfetti-Kanone: „Das ist das Ding. Kick it!“ Durch das Fenster der Eckkneipe ist zu sehen, dass schon nach dem vierten, endgültig aber nach dem fünften Tor kein Halten mehr ist im Stadion. Die Fans fluten den Rasen. Vor dem „Treff“ geht derweil eine blonde Frau auf und ab. „Dass wir das geschafft haben! Wie lange habe ich darauf warten müssen.“ Tränen fließen über ihre Wangen.

Oberbürgermeister Uwe Richrath, Sozialdemokrat und Katholik, hat vor dem Sonntagsspiel zur Sicherheit in seiner Heimatgemeinde eine Fürbittenkerze angezündet. Ein Traum sei wahr geworden, sagt er. „Viele Fans und die Stadt warten seit mehr als 30 Jahren auf diesen Moment, sie wagten kaum zu glauben, dass die Meisterschale jemals nach Leverkusen kommt. Seit heute ist die Stadt eine andere.“ Die Leverkusener wüssten, warum sie ihre Stadt lieben. „Jetzt haben wir der Welt gezeigt, wie lebenswert, vielfältig und bunt Leverkusen ist“, sagt der Oberbürgermeister der 170.000 Einwohner zählenden Kommune am Nordrand von Köln, die bis heute weitgehend vom Chemiekonzern Bayer geprägt ist.

Dann gibt Richrath zu bedenken: Noch lägen wichtige Spiele vor dem Team von Xabi Alonso. „Die Titel von UEFA Europa League und DFB-Pokal liegen zum Greifen nah.“ Tatsächlich hat Bayer 04 in diesem denkwürdigen Fußballjahr 2024 die Chance, seinen Fluch im besten Fall gleich drei Mal zu überwinden und aus „Vizekusen“ mit Verve „Triple­kusen“ zu machen.