Wulf Herzogenrath

Wulf Herzogenrath wird 80 :
Die Bilderwelt im Tropfen

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Damals war Video noch Latein. Als Willy Brandt gerade eben nicht mehr Bundeskanzler war, am 6. Juli 1974, wurde in Köln eine Kunstausstellung eröffnet, deren Titel im Zeitalter der gesamtgesellschaftlichen Begeisterung für Bastelarbeiten auch über dem Manifest einer Regierungspartei hätte stehen können: „Projekt ’74“. Die Ausstellung war ein Gemeinschaftsunternehmen der 1967 eingeweihten und 2002 abgerissenen Kunsthalle und des Kölnischen Kunstvereins; mit dem Untertitel „Aspekte internationaler Kunst am Anfang der 70er Jahre“ erhob sie unverhohlen den Anspruch einer Ersatz- oder Gegen-Documenta. Im Kunstverein wurde dem europäischen Publikum der erste umfassende Überblick über die junge Gattung der Videokunst geboten. Der jüngste Teilnehmer war 22 Jahre alt und firmierte damals noch als William Viola.

Manfred Schneckenburger, der Direktor der Kunsthalle, wurde zum Leiter der sechsten Documenta berufen. 1977 war in Kassel die Videokunst einer der Schwerpunkte; für die Künstlerauswahl dieses Kapitels war Wulf Herzogenrath zuständig, der 1972 mit 28 Jahren die Direktion des Kölnischen Kunstvereins  übernommen hatte. Von Bill Viola zeigte Herzogenrath im Fridericianum die Installation „He Weeps For You“, die den Betrachter in die Projektion eines fallenden Wassertropfens hineinzieht. Als Herzogenrath 1989 nach siebzehn Direktorenjahren als Chefkustos an die Berliner Nationalgalerie ging, verabschiedete er sich von Köln gleich mit zwei Ausstellungen: einem über vier Standorte verteilten Panorama von „Video-Skulpturen“ und einer Jubiläumsschau zur Geschichte der 1839 gegründeten kultur­bür­ger­lichen Institution. In einem Kabi­nett gratulierten dem hundertfünfzig­jäh­ri­gen Kunstverein gleichaltrige Größen des europäischen Kulturerbes: der Breitreifen der Firma Goodyear, der Wellensittich, die Essigrose und das Saxophon. Diesen Raum hatte der Kurator wie ein sammelnder Künstler gestaltet – mit der kombinatorischen Phan­tasie eines Daniel Spoerri, der 1979 mit Studenten der Kölner Werkschulen im Kunstverein sein „Musée sentimental de Cologne“ eingerichtet hatte.

In Berlin war Herzogenrath als Direktor des Museums der Gegenwart im Hamburger Bahnhof vorgesehen. Dass er wegen eines Konflikts mit dem Sachwalter des Privatmanns, für dessen Sammlung das Museum gedacht war, diese Stelle nicht antreten konnte, war ein Unglück, dem alle späteren Kalamitäten der Staatlichen Museen zu Berlin nur noch mehr Symbolkraft zugewachsen ist. Herzogenrath ging zurück in die Welt, aus der er gekommen war, die Welt der Kunstvereine, in der die Kunstliebe von Privatleuten in nachhaltigerer Weise als Ressource des öffentlichen Interesses genutzt wird. Die Kunsthalle Bremen, deren Direktor er von 1994 bis 2011 war, wird vom Bremer Kunstverein getragen, der noch einmal sechzehn Jahre älter ist als sein Kölner Pendant. Herzogenrath erwarb für Bremen Werke von Bill Viola und Nam June Paik, dessen erste europäische Einzelausstellung er 1976 in Köln veranstaltet hatte. In schicken städtischen Kunstmuseen reicher Städte gilt die Vorstellung heute als altmodisch, dass ein Museum eine Institution der Forschung sein soll. Sie ist aber nicht veraltet, wie Herzogenraths Bremer Aus­stellungen über van Gogh, Paula Modersohn und Tomma Wember bewiesen.

Video ist längst eine alte Sprache: die Weltsprache, durch deren Studium man die Grammatik der Bilder begreifen kann. Wulf Herzogenrath feiert am heutigen Samstag seinen achtzigsten Geburtstag.