Nachruf auf Richard Serra :
Sein eigentlicher Werkstoff war der Raum

Von Georg Imdahl
Lesezeit: 3 Min.
Richard Serra inmitten von „Clara Clara“, der Doppelspirale, die 2008 noch einmal an dem Ort in Paris aufgestellt wurde, für den sie geschaffen worden war.
Kraftvoll und umstritten: Er arbeitete mit rostendem Stahl, fertigte Zeichnungen an, die vor allem die Fläche betonen, und provozierte Kontroversen. Nun ist Richard Serra mit 85 Jahren gestorben.

Als Schlüsselerlebnis aus der Kindheit schilderte Richard Serra, wie er im Alter von vier Jahren dem Stapellauf eines Frachtschiffs auf einer kalifornischen Werft beiwohnte, auf der sein Vater arbeitete. In der ihm eigenen Eloquenz beschrieb der 1938 in San Francisco geborene Künstler jenen Augenblick, da der träge Tanker, von den Fesseln gelassen, in wankende Bewegung geriet, womit immense Kräfte freigesetzt wurden, ohne außer Kontrolle zu geraten. Was immer Serra später an physischen Phänomenen in seine Skulptur eingehen lassen sollte, war hier nach seinen Worten bereits „als Rohmaterial gespeichert“.

Nicht minder eindringlich erinnerte Serra an seine frühe Begegnung mit dem Werk von Constantin Brâncuși im Pariser Musée National d’Art Moderne, wo er 1964 über acht Monate hinweg fast jeden Tag das dort rekonstruierte Atelier besucht und daraufhin den Entschluss gefasst hatte, die Malerei beiseitezulegen und stattdessen Bildhauer zu werden. Er selbst interessiere sich für Gewicht, hat Serra unverblümt zu verstehen gegeben, deshalb drehe sich ihm beim Gedanken an Aluminium „der Magen um“: Dieses Material sei für ihn „fake“, Kupfer erwecke leicht den Eindruck von „billigem Luxus“, auch Holz oder Beton seien nicht sein Werkstoff, wohl aber Blei und Stahl – schon als Student und Assistent von Josef Albers in Yale hatte Serra seinen Unterhalt in einer Stahlfabrik verdient.

Als würde Borromini Wände aus Stahl und Blei biegen

Wenn Schwerkraft die Kraft der Schwere ist, dann war Serra der kraftvollste, aber auch umstrittenste Bildhauer des vorigen Jahrhunderts. Es dauerte lange, bis sich das Publikum mit rostendem Stahl als Material von Gegenwartskunst anfreunden oder überhaupt nur abfinden konnte. Stellte das an den Ort gebundene Werk in früheren Epochen der Kunstgeschichte eine Selbstverständlichkeit dar, war es im vorigen Säkulum vornehmlich an einigen wenigen Künstlern wie namentlich Serra, die ortsspezifische Skulptur im öffentlichen Raum wieder auf die Agenda zu setzen. Oft genug brach darüber heftiger Streit aus wie in den späten Siebzigern in Bochum, als dort gegen Serras „Terminal“ auch im Kommunalwahlkampf populistisch polemisiert wurde – die hoch aufragende, aus vier Stahlplatten gefügte Skulptur ist heute ein kulturelles Wahrzeichen der Revierstadt. Anders in New York, wo Serras riesige, gekippte Stahlkurve „Tilted Arc“ 1989, acht Jahre nach ihrer Errichtung, gegen den erbitterten Protest des Urhebers wieder abgebaut und damit – da sie für den Federal Plaza konzipiert worden war – zugleich auch vernichtet wurde.

Rostiger Stahl in riesigen Blöcken: Serras Skulpruen „Equal“ im Museum of Modern Art in New York
Rostiger Stahl in riesigen Blöcken: Serras Skulpruen „Equal“ im Museum of Modern Art in New YorkAP

Ähnlich wie die Arbeiten von Eva Hesse oder Bruce Nauman wird das Werk Richard Serras dem „Postminimalismus“ zugerechnet, einer Strömung, die die Minimal Art öffnete und neu ausrichtete. Hatte deren Wortführer Donald Judd bemerkt, ein einziger Fingerabdruck genüge, um seine Objekte zu zerstören, waren die Schleifspuren im Stahlwerk für Serra Index einer industriellen Gegenwart. Niemand hat die Ausdruckskraft von Gewicht, Masse, Volumen so bezwingend als Kuben, Quader und Platten in prekäre Balance gebracht.

Richard Serras Bramme für das Ruhrgebiet in der Essener Schurenbachhalde
Richard Serras Bramme für das Ruhrgebiet in der Essener SchurenbachhaldePicture Alliance

An der Neuen Nationalgalerie zeugt der aus dem Lot geneigte „Berlin Block für Charlie Chaplin“ von jener unwiderstehlichen psychophysischen Ausstrahlung; seine kompromisslose künstlerische Haltung gab Serra in der Konzeption des Denkmals für die ermordeten Juden Europas am Reichstag zu erkennen, von der er sich – wie auch von der Kooperation mit dem Architekten Peter Eisenman – zurückzog, als er auf Änderungswünsche nicht einzugehen bereit war. Dabei bekundet sich gerade in dem Berliner Stelenfeld ein Credo Serras: Sein eigentlicher Werkstoff sei der Raum.

Nicht zu vergessen ist darüber der Zeichner Serra. Seine tiefschwarzen, massig mit Ölkreide beschichteten „Drawings“ betonen die Fläche, konfrontieren den Betrachter aber fast ebenso nachhaltig mit den Erscheinungen von Gravitation und gefährdetem Gleichgewicht wie die Skulpturen. Unvergessen bleibt eine Ausstellung in einem verwaisten, vom Bonnefanten-Museum Maastricht betriebenen Kaufhaus 1990, für deren Räume Serra die Zeichnungen teils vor Ort für den Ort produziert hatte. In seinem späteren skulpturalen Werk blieb er wiederum von frühen Erinnerungen inspiriert, etwa von dem barocken, psychedelischen Kirchenbau eines Borromini – schuf aus gebogenen Stahlplatten Räume, die man so noch nie gesehen hat wie im Guggenheim Museum Bilbao. An den Folgen einer Lungenentzündung ist Richard Serra am Dienstag im Alter von fünfundachtzig Jahren in Long Island gestorben.

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