Muslimisch-jüdische Kolumne :
Warten aufs Kind

Von Saba-Nur Cheema, Meron Mendel
Lesezeit: 6 Min.
Willkommen, neuer Erdenbürger
Temporärer Abschied von einem Lebensabschnitt: Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Geburtenrate in Deutschland in den vergangenen beiden Jahren deutlich gesunken ist. Warum ist das eigentlich so?

Es ist bald so weit. Jeden Tag kann der Nachwuchs kommen. Stress und Freude prägen unsere Gedanken. Während wir beim ersten Kind streberhaft die Checkliste abgearbeitet haben, Geburtsvor­bereitungskurs, Schwangerschaftsyoga und Ausstattung des noch Ungeborenen bis zu seinem fünften Lebensjahr, sind wir dieses Mal weniger organisiert. Wir versuchen, das jetzt im Endspurt nachzuholen. Die Tasche für das Krankenhaus ist fast gepackt, das Beistellbett endlich aufgestellt und der Notfallplan, wer sich um das große Kind kümmert, mit den Großeltern durchgesprochen. Nur noch die Anmeldung im Krankenhaus erledigen und diesen Text schreiben, dann kann das Kind kommen.

Der vorerst letzte Urlaub vor zwei Wochen fühlte sich wie ein temporärer Abschied von unserem bisherigen Lebensstil an. Wir sehnten uns nach Sonne und Strand, doch darf man hochschwanger ja nicht fliegen. Also haben wir uns mit der regnerischen niederländischen Küste zufriedengegeben. Kurz vor der Abreise drückte uns eine Freundin Peter Zantinghs neuen Roman „Zwischen uns und morgen“ in die Hände. „Das Buch wird euch gefallen“, versicherte sie. Beim Lesen unter der Wolldecke in der Ferienwohnung wurde uns klar, was sie meinte. Es geht um einen jungen Vater, der seiner Frau mit dem ICE durch das überschwemmte Ahrtal hinterherfährt. Mal explizit, mal subtil stellt sich im Roman die Frage, warum ein Baby in diese Welt gesetzt wird, in der eine Naturkatastrophe die nächste Krise jagt.

Sind wir naiv, oder verdrängen wir nur die Realität?

Wieso haben wir uns diese Frage nicht gestellt? Sind wir naiv, oder verdrängen wir nur die Realität? Offensichtlich haben andere (potentielle) Eltern besser aufgepasst. Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Geburtenrate in Deutschland in den vergangenen beiden Jahren deutlich gesunken ist. Mit 1,36 Kindern pro Frau steht sie gerade auf den niedrigsten Stand seit 2009. Schuld daran sind sicher auch die vielen Krisen: von der Pandemie bis zum Ukrainekrieg. Anfang vorigen Jahres warnte Robert Habeck davor, dass Zwanzigjährige heute wegen der Klimakrise überlegten, ob sie überhaupt noch Kinder wollen.

Wir sind längst nicht mehr zwanzig, und für uns ist es jetzt sowieso zu spät. Die Entscheidung für die Familienerweiterung ist schon gefallen. Also bleibt uns nichts übrig, als uns im Zweckoptimismus zu üben. Es ist bestimmt nur ei­ne Phase, versuchen wir uns gegenseitig zu versichern. Die nächsten Generationen werden es schaffen, den Planeten zu retten und nebenbei noch den Weltfrieden zu schließen; oder im Zweifel ihren Lebensmittelpunkt auf den Mars zu verlegen. Jede Generation muss schließlich die Versäumnisse und Katastrophen der vorherigen Generation ausbaden. Das gilt auch für die Kinder des Jahrgangs 2024.

Als Frau gibt es gute Gründe, angestrengt zu sein

Mit diesen und anderen unproduk­tiven Gedanken vertreiben wir uns nun die Zeit in unseren vier Wänden und verlieren langsam die Geduld. Dabei gehen wir uns gelegentlich selbst auf die Nerven. Als Frau gibt es gute Gründe, angestrengt zu sein: Übungswehen, Rückenschmerzen, permanentes Unwohlsein. Als Mann ist man zu kaum etwas nützlich. Der Beitrag zur Schwangerschaft beschränkt sich auf Einkaufen, Teekochen und Einüben empathischer Mimik – auch wenn man keinen Schimmer hat, wie es der werdenden Mutter geht. Ob wir es zugeben wollen oder nicht: Die Biologie bestimmt aktuell un­sere Realität. Emanzipation und Gleichberechtigung machen spätestens vor dem Kreißsaal halt. Weder können die Geburtsschmerzen gleichberechtigt aufgeteilt werden noch das Stillen.

Auch wenn die Last so unfair verteilt ist, beschäftigen uns ähnliche Fragen, was die Zukunft betrifft. Ist jetzt mit Freiheit und selbstbestimmtem Leben endgültig Schluss? Wie geht es weiter mit Vollzeitjobs und zwei Kindern? Wer nimmt wie lange Elternzeit? Da wir diese Fragen schon beim ersten Kind beantworten mussten, machen wir uns keine Illusionen. Es wird herausfordernd, aber: Augen zu und durch.

Jammern auf hohem Niveau

Wir wissen: Es ist Jammern auf hohem Niveau So schlecht geht es uns nicht. Weder in Israel noch in Pakistan gibt es Mutterschutz und eine zwölfmonatige Elternzeit. Woher kommt dann das Image, Deutschland sei kinderfeindlich? Der schlechte Ruf hat seine Berechtigung, das wissen wir aus eigener Erfahrung. Es beginnt damit, dass man das Gefühl hat, als Familie mit Kleinkind zu stören. Kinder werden im Alltag eher toleriert denn gewünscht oder willkommen geheißen: die Blicke im Restaurant, wenn das Kind das Besteck auf den Boden wirft; die verdrehten Augen im Bus, wenn das Baby schreit; die Ratschläge von Fremden im Supermarkt, wenn sich der Zweijährige im Wutanfall auf den Boden schmeißt.

Bei den vielen Fahrten im ICE mit dem Kleinen haben wir bisher nur einmal einen Sitz im Familienbereich ergattert. Nur 2,5 Prozent der Plätze sind dort für Familien ausgewiesen. Dafür bekommen die Kinder im Bistro kleine Spielzeugautos und -züge. Immerhin. Übrigens: Es war schön, in den Niederlanden zu sehen, dass es in Restaurants großzügig ausgestattete Spielecken gibt. Noch schöner wäre es, wenn diese kinderfreundliche Einrichtung nicht kurz vor Aachen enden würde.

Meron Mendel und Saba-Nur Cheema
Meron Mendel und Saba-Nur Cheemadavid bachar

Auch aus unseren Herkunftsländern kennen wir es anders als in Deutschland. Es beginnt damit, dass Kinder überall präsent sind: In Pakistan liegt die Geburtenrate bei etwa 3,4, in Israel bei 3,1 je Frau. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung in Pakistan ist unter fünfzehn Jahren. Die Pakistaner sind aber nicht einfach nur besonders kinderlieb – für die meisten sind Kinder ihre Absicherung im Alter, denn es gibt keine staat­liche Rente oder Krankenversicherung. Und viele wissen es einfach nicht besser: Verhütung und sexuelle Aufklärung sind noch immer heikle Themen, obwohl heimische Experten vor der anstehenden Belastung der nächsten Generationen warnen.

Die religiöse Propaganda tut ihr übriges: Jedes Kind würde die Weltgemeinschaft der Muslime stärken, heißt es. Die Vorstellung, dass viele Kinder das Kollektiv stärken, ist auch in Israel verbreitet. Der Konflikt mit den Palästinensern und den arabischen Ländern würde nicht nur militärisch, son­dern auch demographisch entschieden. Der Anführer der Palästinenser, Jassir Arafat, verkündete in den Neunzigerjahren gar den „Krieg der Gebärmutter“. Es ist aber nicht nur der Konflikt mit den Nachbarn, der Israel bei der Geburtsrate an die Spitze aller westlichen Ländern geführt hat. Mit jedem Baby werde das Weiterbestehen des jüdischen Volkes nach dem Verlust von sechs Millionen Menschen im Holocaust sozusagen kompensiert, glauben viele.

Jeden Freitag „Thanksgiving“

Ganz vorn bei den Geburtenzahlen stehen ultraorthodoxe und orthodoxe Juden, aber auch säkulare Familien haben viele Kinder. Im jüngst erschienenen Buch „The Genius of Israel“ stellen Dan Sanor und Saul Singer fest, dass es in Israel ein­facher sei als anderswo, Eltern zu sein: Die Strukturen im Arbeitsmarkt und im gesellschaftlichen Leben orientieren sich an Familien. Das Familienkonzept, basierend auf drei Generationen, bietet enorme Unterstützung bei der Kinderbetreuung. Nicht nur an hohen Feier­tagen, sondern jede Woche am Freitag kommen alle zum Schabbat zusammen, was die Autoren als „Thanksgiving every week“ bezeichnen.

Doch nicht immer läuft das Familienleben so perfekt, wie Sanor und Singer schreiben. Die israelische Soziologin Or­na Donath warf in ihrer Studie ein Licht auf Frauen, die es bereuen, Mutter geworden zu sein. Mit dem Ausdruck „Regretting motherhood – Wenn Mütter bereuen“ beschreibt sie ein Phänomen, das – wahrscheinlich weltweit – immer noch als Tabu gilt. Viele der befragten israelischen Frauen fühlten sich eingeschränkt: Zwar lieben sie ihre Kinder, doch verabscheuten sie ihre Mutterrolle. Sie sagen: „Die Mutterschaft hat meinem Leben nichts hinzugefügt, außer Schwierigkeiten und Sorgen.“

Interessanterweise löste die israelische Studie 2015 besonders in Deutschland eine rege Debatte aus, die über Monate unter dem Hashtag #regrettingmo­therhood auch in den sozialen Medien ausgetragen wurde. Es wurde sogar eine Studie über das Phänomen hierzulande durchgeführt. Der Roman „Mädchen für alles“ der britisch-deutschen Autorin Charlotte Roche griff das literarisch auf. Schnell verschob sich aber die Debatte: Statt über das Bereuen der Mutterschaft als Gefühl zu sprechen, wurde der Hashtag dafür genutzt, um über die (Un-)Vereinbarkeit von Beruf und Familie und mangelnde Kitaplätze zu diskutieren. So beklagten Frauen, die wegen ihrer Kinder zu Hause bleiben, dass sie oft sowohl belächelt als auch bemitleidet würden. Frauen, die sich mit Kindern auch für ei­ne Karriere entschieden, berichteten, häufig als Rabenmutter abgewertet zu werden.

Auch wenn der Alltag mit Kindern oft frustrierend und nervenaufreibend ist, bedauern wir die Entscheidung nicht, Eltern zu werden. In späten Nachtstunden, wenn die eine keine gute Schlafposition findet und der andere aus Solidarität wach bleibt, spekulieren wir darüber, wie das Kind wohl sein wird – sein Aussehen, seine Persönlichkeit. Wir können nicht ahnen, welche Welt es erleben wird. Und es lässt sich sicherlich nicht rational erklären, doch für uns ist das Gefühl einzigartig, einem Menschen das Wichtigste geben zu können, das es gibt: das Leben.