Brief aus Istanbul :
Warum lassen sie Vergewaltiger und Mörder frei?

Von Bülent Mumay
Lesezeit: 5 Min.
Recep Tayyip Erdogan bei einem Auftritt vor Anhängern nach seinem Wahlsieg Ende Mai.
Trauernde, die der Opfer eines Anschlags gedenken, werden festgenommen. Naturschützer führt die Polizei ab. Die Justiz verbietet Berichte über Korruption: So geht es zu in der Türkei nach Erdoğans Wiederwahl.

Bereits vor den Wahlen im Mai steckten wir in der Türkei in einer Phase des Niedergangs. Nach Erdoğans knapper Wiederwahl ist die Tragödie nur schlimmer geworden. Seit das oppositionelle Bündnis zerbrach, steht der Regierung kein Hindernis mehr im Weg. Niemand kann seine Stimme erheben, weil die Demokratie in der Türkei allein auf die Wahlurnen reduziert wurde und weil alle anderen Instrumente, einschließlich des Rechts auf Protest, vom Palastregime als Terrorismus behandelt werden.

Der geringste Widerstand wird mit Polizeigewalt und Festnahme bestraft. Sogar die Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung für die 33 jungen Leute, die 2015 bei einem Selbstmordanschlag des IS umkamen, wurden in Gewahrsam genommen. Festgenommen wurden auch die Journalisten, die Aufnahmen vom Eingreifen der Polizei machten, und die Rechtsanwälte, die die Veranstaltungsteilnehmer verteidigen wollten.

Ebenso Bewohner, die die Bäume ihres Dorfes vor Abholzung bewahren wollten. Von Erdoğan reich gemachte Unternehmer ließen dort letzte Woche unter dem Schutz von Gendarmen 65.000 Bäume roden, um Braunkohle zu fördern. Etliche Anwohner, die sich gegen den Einschlag des alten Baumbestands wehrten, wurden festgenommen. Und die Regierung, die sich rühmt, die Türkei in eine „Insel des Friedens“ zu verwandeln, verbot erneut ein Musikfestival, weil angeblich ein Sicherheitsrisiko bestand.

Die Polizei bedrängt Demonstranten, die gegen die Baumfällung im Ort Milas protestieren.
Die Polizei bedrängt Demonstranten, die gegen die Baumfällung im Ort Milas protestieren.dpa

Die Regierung gönnt uns keine Ruhe

Die Regierung gönnt uns keine Ruhe. So wenig wir den Mund aufmachen können, so sehr verarmen wir. In jeder Hinsicht. Dank Erdoğans Wirtschaftspolitik ist unsere Kaufkraft im Keller. Unter allen OECD-Ländern haben es Eltern in der Türkei am schwersten, ihre Familien zu ernähren. 70 Prozent der Familien fürchten, nicht einmal die Grundbedürfnisse stillen zu können.

Laut Report der größten Oppositionspartei leben 60 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Bürger verschulden sich, um über die Runden zu kommen, Betriebe, um nicht schließen zu müssen. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Anzahl der Inkassofälle bei den Vollstreckungsbehörden um 62,7 Prozent erhöht.

Und es geht nicht bloß ums Geld. Auch in den Bereichen Bildung und Kultur erodiert das Land. Den offiziellen Statistiken zufolge konnten sich im letzten Jahr 85 Prozent der Bürger keinen Kinobesuch, 92 Prozent keine Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen und 69 Prozent kein Buch leisten. Zwei Millionen Menschen legten die Zulassungsprüfung für ein Studium ab, rund 100.000 gingen mit null Punkten nach Hause, konnten also keine einzige Antwort richtig geben. Und die Guten können wir nicht halten.

Laut offiziellen Angaben erhöhte sich die Zahl der ins Ausland Abgewanderten innerhalb ei­nes Jahres um 62 Prozent.

Kritische Berichte werden allesamt gesperrt und ausgeblendet

Die Regierung stört dieses von ihr selbst geschaffene Tableau nicht. Aber sie will auch nicht, dass über ihr Werk geredet wird.

Dass derlei Meldungen in den traditionellen Medien erscheinen, die es zu 95 Prozent unter Kontrolle hat, lässt das Palastregime ohnehin nicht zu. Die außerhalb der Kontrolle verbliebenen Medien wurden mit einem Gesetz zum Schweigen gebracht, das 2007 unter dem Vorwand des Kampfes gegen Pornographie und Terrorismus erlassen worden war. Per Zugangssperre wird digital geschwärzt. Die von Erdoğan zusammengesetzten Justizkader versperren den Zugang zu Meldungen und Berichten, sobald sie die Regierung auch nur am Rande tangieren.

Letzte Woche publizierte der Verein für Meinungsfreiheit seinen Report über Zensur im Netz für 2022. Demzufolge waren 2007 lediglich 40 Inhalte vom Staat zensiert worden, 2022 aber die Rekordzahl von 137.717 Inhalten. Im Zeitraum 2007 bis 2022 belief sich die Zahl zensierter Inhalte auf ganze 712.000.

Unter den gesperrten Seiten befinden sich auch gewaltverherrlichende Inhalte, Hassrede oder Kinderpornographie, gegen die überall auf der Welt vorgegangen wird. Bei der großen Mehrheit aber handelt es sich um kritische Berichte über Erdoğan, seine direkte Umgebung oder staatliche Einrichtungen.

So war am 20. Juli ein Istanbuler Gericht damit beschäftigt, Meldungen und Berichte über zwei Erdoğan-Söhne zu zensieren. Bilal und Burak Erdoğan ließen mit drei Urteilen insgesamt 461 Inhalte sperren. Beim ersten Urteil ging es um Burak, den ältesten Erdoğan-Sohn. Vor Jahren hatte er eine Sängerin überfahren, war vom Gericht aber von jeder Schuld freigesprochen worden. Jetzt ließ Burak Erdoğan 59 Inhalte zu diesem Thema zensieren.

Das zweite Urteil betraf Bilal Erdoğan. Es wurden 120 Berichte über die Vergabe einer millionenschweren Ausschreibung für ein Elektrizitätswerk an einen Freund Bilal Erdoğans geschwärzt. Bei Urteil Nummer drei ging es um eine Korruptionsmeldung der internationalen Nachrichtenagentur Reuters im Zusammenhang mit Bilal Erdoğan. Reuters hatte über einen Deal Bilal Erdoğans mit einer schwedischen Firma über Schmiergeld berichtet, die sich auf diese Weise Zugang zum türkischen Markt verschaffen wollte. Neben dem Bericht auf der Reuters-Website wurde auch der Zugang zu den entsprechenden Seiten von 282 Reuters-Abonnenten gesperrt, die den Bericht ganz oder zusammengefasst übernommen hatten. Und Nachrichten über das Urteil der Schwärzung des Korruptionsberichts wurden gleich mit gesperrt. Reuters erklärte, man stehe zu dem Bericht, und legte Widerspruch ein, der postwendend abgelehnt wurde.

Es ging noch weiter, halten Sie es nicht für einen Witz: Einige regierungsnahe Medieneinrichtungen lösten ihre Verträge mit Reuters auf, weil die Agentur den Bericht über die Korruptionsvorwürfe gebracht hatte. In der Ära der AKP-Regierung kreierten junge Leute in der Türkei eine neue Redewendung: „Eigentlich ein lustiges Land, wenn wir nicht seine Staatsbürger wären.“

Unser Rechtswesen arbeitet natürlich nicht nur für Familie Erdoğan. Auch für Journalisten ist sie im Einsatz. Vergangenes Jahr waren in Diyarbakır 18 kurdische Journalisten verhaftet worden. Der Vorwurf klang etwas seltsam: „Zutragen von Informationen an die Terrororganisation durch Eilmeldungen über staatliche Operationen gegen die PKK.“ Dabei war in allen öffentlich zugänglichen Quellen über die staatlichen Operationen berichtet worden.

Journalisten berichten und werden prompt festgenommen

Jüngst kamen die Journalisten frei. Der Prozess gegen sie barg noch einen weiteren kleinen Skandal: Es stellte sich heraus, dass der Staatsanwalt und die Richterin ein Ehepaar sind. Der Journalist, der diesen Fakt auf seinem Twitter-Account mitteilte, und drei Kollegen, die seinen Tweet teilten, wurden am nächsten Morgen aus dem Haus heraus festgenommen und in Handschellen abgeführt. Vorgeworfen wird ihnen, die Justizkader, die den Terrorismus bekämpfen, zur Zielscheibe für die Terrororganisation gemacht zu haben.

Die auf Twitter geteilte Information bestand aus einem Screenshot des vom Justizministerium im Amtsblatt veröffentlichten Ernennungserlasses. Erdo­ğans Leute in der Justiz verhinderten auch die Freilassung des kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş, der seit beinahe sieben Jahren in Haft ist. Als das Verfassungsgericht zusammenkommen wollte, um die seit vier Jahren dort anhängige Akte Demirtaş zu verhandeln, erklärte ein von Erdoğan ernannter Richter, er sei auf die Akte nicht vorbereitet, die Sitzung wurde verschoben. Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte längst geurteilt hat, dass Demirtaş freizulassen sei, kam er wieder nicht frei.

Oppositionelle Journalisten, Intellektuelle und Politiker hält die Regierung in den Gefängnissen fest, Mörder, Drogendealer, Vergewaltiger hingegen lässt sie mit einer Verordnung, die am 31. Juli in Kraft trat, frei. Dank der verdeckten Amnestie, die den Namen Vollzugsverordnung trägt, sind bald Straftäter unter uns, wenn sie ein Zehntel ihrer Strafe abgesessen haben und ein paar Monate im offenen Vollzug waren. Auf unseren Straßen wird es noch unsicherer werden, obwohl die Kriminalität jetzt schon in die Höhe schießt.

Ein böser Verdacht bleibt: Ich hoffe sehr, dass hinter dieser verdeckten Amnestie nicht die Absicht steckt, in den Haftanstalten Platz für noch mehr Oppositionelle zu schaffen.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.