Das Internet der Tiere :
Am Puls des Planeten

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Die satellitengestützte Beobachtung von Tieren gibt nicht bloß Auskunft über das Verhalten von Individuen, sondern über die Dynamik in kleinen Gruppen und großen Verbänden: Südafrikanische Spießböcke überqueren eine Düne in der Namib.
Werden die Kühe unruhig, ist Obacht geboten: Martin Wikelski überwacht Vögel, Säuger und Insekten vom Weltraum aus. Mit den gesammelten Daten will er ein Internet der Tiere etablieren, das auch dem Menschen zugutekommt.

In seiner Laufbahn als Biologe hat Martin Wikelski die größte Überraschung erlebt, als er mit Walhaien schwimmen war. Vom Osten Mexikos aus fuhr er mit einem Kollegen aufs offene Meer. Winziges Boot. Mehr als zwei Stunden Reisezeit. Zuerst sahen sie fünf, bald zehn, dann dreißig, am Ende mindestens vierzig Exemplare. Spektakulär, keine Frage, aber diese Versammlung der größten Fische der Welt war nicht die Überraschung. Als Wikelski von einem seiner Tauchgänge zurück an die Wasseroberfläche kam, hörte er nämlich ein vertrautes Geräusch. Er schaute in den Himmel und sah einen Pieperwaldsänger. Der etwa fünfzehn Zentimeter kleine Singvogel war offensichtlich unterwegs nach Süden. Keine Besonderheit, die Reise unternehmen er und seine Artgenossen jedes Jahr.

Dann wurde es interessant. Der Vogel setzte zum Sinkflug an. Aha, dachte Wikelski, er will bestimmt auf dem Boot rasten. Doch der Pieperwaldsänger hatte andere Pläne. Er landete im Ozean. Naheliegender Gedanke: Die Fettreserven reichen nicht, hier endet die Reise. Die Walhaie waren jetzt nicht mehr so wichtig, und der Biologe schwamm zu dem Absturzopfer, das sich mit ausgebreiteten Flügeln auf den Wellen hielt – Köpfchen über Wasser. Plötzlich flog der Vogel ab und landete in einiger Entfernung zum zweiten Mal. Vermutung: Mit letzter Kraft hat er sich vor Wikelski in Sicherheit gebracht. Also alles von vorne. Der Forscher schwamm los und suchte den Vogel, der erhobenen Hauptes auf dem Meer trieb. Allerdings nicht mehr lange. Er tschilpte, erhob sich, gewann an Höhe und setzte seinen Zug Richtung Süden fort.

„Wir sollten jedem einzelnen dieser Tiere eine Stimme geben“

„Alles, was ich zu wissen glaubte, war von diesem Pieperwaldsänger über Bord geworfen worden“, schreibt Wikelski in seinem lesenswerten Buch über das „Internet of Animals“. Er wolle nun nicht behaupten, dass alle Singvögel während ihrer Trips in die Brutgebiete und Winterquartiere auf dem Wasser Zwischenstopps einlegen, aber die Beobachtung bedeutet für ihn doch, dass hinterfragt werden will, „was wir vom Vogelzug über natürliche Hindernisse hinweg zu wissen glaubten“. Man könne nun etwa annehmen, dass Modelle über das Reisetempo von Singvögeln, die auf einem Nonstop-Flug über Ozeane basieren, falsch sind. Was, wenn Wasserlandungen bei einigen Arten zum normalen Erholungsprogramm gehören? Wie oft kommt eine solche Rast vor? Welche Rolle spielen Wind, Temperatur oder die bereits zurückgelegte Strecke?

Pieperwaldsänger bei der Nahrungssuche im amerikanischen Bundesstaat Florida
Pieperwaldsänger bei der Nahrungssuche im amerikanischen Bundesstaat Floridapicture alliance / blickwinkel/M. Woike

Das Erlebnis mit dem Pieperwaldsänger erinnert daran, dass der Zufall in der Wissenschaft dazugehört. Und es lässt in Wikelski eine Überzeugung reifen, die hochgegriffen klingt, von manchem Kollegen mit Argwohn zur Kenntnis genommen werden dürfte, dabei gleichwohl die immer häufiger geäußerte Einsicht ernst nimmt, auch bei nichtmenschlichen Lebewesen handle es sich keineswegs um Automaten, sondern um Individuen: „Wir sollten jedem einzelnen dieser Tiere eine Stimme geben.“ Natürlich ist das so umfassend nicht möglich, doch den Versuch, dieses Ziel, so gut es geht, zu erreichen, unternimmt der Autor seit mehr als zwanzig Jahren immer wieder. Wikelski, Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie, steht den Vögeln besonders nahe, kümmert sich aber ebenso um Säuger und Insekten.

Misstrauen, Verschwörungsdenken, technische Pro­bleme

Wer im Bilde sein möchte über das Verhalten von Wildtieren, die an unterschiedlichen Orten der Welt leben, muss sie mit einem Trackinggerät bestücken und die gesammelten Daten auswerten. Auf die eine oder andere Art geschieht das seit Jahrzehnten. Wikelski etwa hat in den Neunzigern mit einem Kollegen auf Barro Colorado, einer künstlichen, rund fünfzehn Quadratkilometer großen Insel, die beim Bau des Panamakanals entstanden ist, Nasenbären und Ozelote, Faultiere und Agutis, Spechte und Schneebussarde mittels Radiotelemetrie beobachtet. Dazu bauten die Forscher sieben Antennenmasten auf, die über die Baumwipfel hinausragten. Die Signale der Sender, mit denen die Tiere ausgestattet wurden, erreichten die Antennen aus verschiedenen Richtungen und Entfernungen. Mithilfe des Laufzeitunterschieds und des Empfangswinkels konnte man genaue Positionen ermitteln. Eine aufwendige Arbeit, die unter anderem zeigte, dass einzelne Tiere fortwährend unterwegs waren und in ständigem Austausch miteinander standen.

Martin Wikelski: „The Internet of Animals“. Was wir von derSchwarmintelligenz des Lebens lernen können.
Martin Wikelski: „The Internet of Animals“. Was wir von derSchwarmintelligenz des Lebens lernen können.Malik Verlag

Dabei wurde ein Problem der Feldökologie immer deutlicher: Der Erkenntnisgewinn bleibt überschaubar, wenn man sich mit nur einer Art in einem Gebiet beschäftigt, denn viele Tiere sind mobiler, als man lange Zeit angenommen hatte. Bis heute ist über etliche Migrationssysteme auf der Welt so gut wie nichts bekannt. Hier kommt ICARUS ins Spiel, die International Cooperation for Animal Research Using Space. Dabei handelt es sich um ein satellitengestütztes Tele­me­trie­system, das Wikelski federführend vorangetrieben hat und vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, der russischen Weltraumorganisation Roskosmos und der Max-Planck-Gesellschaft unterstützt wurde. Die nötige Ausrüstung hat man vor sechs Jahren zur Internationalen Raumstation geschafft. Seit dem Überfall auf die Ukraine ist die Zusammenarbeit mit Russland beendet. Ein neuer Empfänger soll im Herbst 2024 mit der Datenerfassung beginnen.

Wenn Kühe Gefahr wittern

Wikelski schreibt mal mit sachlicher Strenge, mal mit kindlicher Begeisterung. Er weiß manches zu berichten über Meetings mit den russischen Kollegen, nicht aus der Welt zu schaffendes Misstrauen, Verschwörungsdenken, technische Pro­bleme, Rückschläge, Frustration, Erfolgserlebnisse und den Nutzen seines Projekts. Die Idee, Amseln, Nashörner oder Schmetterlinge vom All aus zu beobachten, um so den „Puls des Planeten“ zu fühlen, will gut begründet sein. Da wird der Hinweis, dass die Erforschung von Tieren vor hundertfünfzig Jahren mit Charles Darwin und Alfred Russel Wallace erst richtig in die Gänge gekommen sei und jetzt intensiver mit Messungen von Temperatur, Luftdruck und Höhe vorangetrieben werden müsse, nicht jeden wirklich überzeugen.

Martin Wikelski lässt einen besenderten Flughund in Sambia wieder frei.
Martin Wikelski lässt einen besenderten Flughund in Sambia wieder frei.Christian Ziegler, Max Planck Institute for Ornithology

Ein besseres Argument ist die Seuchenprävention. Wikelski und sein Team hatten vor einiger Zeit bei Wildschweinen in Deutschland eine Merkwürdigkeit registriert: Die Tiere bewegten ihre Ohren, an denen die Sender befestigt waren, plötzlich langsamer. Sofortige und korrekte Diagnose: „Afrikanische Schweinepest“. Misst man das Verhalten von Tieren, die Gefahr wittern, kann sogar eine Kuh zum Frühwarnsystem werden. Zum Beispiel Berta. Ihr Zuhause ist ein italienischer Bauernhof. Nach einem Erdbeben besenderten Wikelski und seine Lebensgefährtin das Tier und einige Stallgenossen, um zu überprüfen, wie die Reaktionen auf weitere Erschütterungen ausfallen. Die Daten sprachen für sich: Stunden vor dem nächsten Beben waren die Tiere „wie erstarrt gewesen, was wiederum die Hunde in extreme Unruhe versetzt hatte“. Dann begannen die Kühe unruhig zu werden, und für eine Stunde war das „Aktivitätsniveau aller Tiere um etwa fünfzig Prozent erhöht“.

Wikelski möchte ein für jedermann nützliches Internet der Tiere etablieren, dessen Leistungsfähigkeit sich freilich noch nicht abschätzen lässt. Seine Vision ist, dem Wetterbericht nicht unähnlich, eine täglich neu erstellte „Momentaufnahme zum Zustand unseres Planeten“. Das würde so klingen: „Schneegeier warnen vor einem aufziehenden Sturm, Mount-Everest-Expeditionen wird geraten, im Basislager zu bleiben. (...) Papageien, Ziegen, Füchse, Bienen und Schlangen rund um den Pinatubo auf den Philippinen verhalten sich unauffällig, für heute und morgen sind dort keine größeren vulkanischen Aktivitäten zu erwarten.“ Ob ein solcher Rapport über das Leben auf der Erde in Zukunft zum Alltag gehören wird, darf bezweifelt werden. Auf der anderen Seite hat ICARUS auch lange Zeit wie Science-Fiction angemutet.

Martin Wikelski: „The Internet of Animals“. Was wir von derSchwarmintelligenz des Lebens lernen können. Aus dem Englischen von Sven Dörper und Thomas Wollermann. Malik Verlag, München 2024. 320 S., Abb., geb., 25,– €.