Leipziger Buchmesse 2024 :
Und das Herz splitternackt

Von Jan Wiele, Leipzig
Lesezeit: 5 Min.
So schöne Klarheit herrscht nicht überall: eine Frau am Reclam-Stand auf der Leipziger Buchmesse
Zwischen Content, Kitsch und Cosplay auf Inseln der Seligen: Während die Bedingungen der Leipziger Buchmesse prekärer werden, bietet sie tolles Programm – noch.

Wolf Biermann reißt es noch mal heraus. Für eine einzige Veranstaltung auf die Leipziger Buchmesse gekommen samstagmittags am Stand der unabhängigen Verlage, soll er eigentlich nur einen Gastauftritt haben: Ekkehard Maaß, seit DDR-Zeiten Betreiber eines literarischen Salons im Prenzlauer Berg, hat für einen aktuellen Band die Lieder des von ihm seit Langem verehrten russischen Sängers Bulat Okudschawa (1924 bis 1997) auf Deutsch nachgedichtet, Biermann hat mitgewirkt und ein Vorwort geschrieben.

Maaß kommt in der guten halben Stunde nur selten sekundenlang zu Wort, das scheint ihn allerdings nicht zu stören: Es ist Biermanns Bühne, er überlässt sie ihm gern, und der Siebenundachtzigjährige füllt sie sofort voll aus. „Könn’ Sie mir folgen? Ich kann mir selber kaum folgen.“ Er spielt noch immer blendend Gitarre und trägt ein Lied über Liebe, Krieg und Verrat vor, bald krächzend, bald stöhnend, fast kreischend: schön wie eh und je. „Schnell den Koffer gepackt, schnell den Mantel gesackt, und das Herz“ – Kunstpause, dann umso dramatischer: „splitternackt“!

„Er-sagt-sie-sagt“-Prosa

Aber Biermann ist nicht nur für die ­Sache der Lyrik so gut, sondern auch für manche allgemeinere Spruchweisheit, die den aktuellen Betrieb der Content-, Kitsch- und Cosplaybuchmessen, den man nun schon seit etwa 15 Jahren beobachten kann, wenigstens noch etwas zu piesacken vermag. Wer selbst nicht glaube, er könne es besser als alle anderen (beim Übersetzen gar besser als das Original, fordert Biermann!), der solle etwas für die Kunst tun – und lieber schweigen.

Das ist ein im Grunde steiler Satz für eine Messe, auf der einen bei so manchen der laut Veranstalter 2800 Veranstaltungen das Gefühl beschleicht, dass nicht alles, was man aufschreiben kann, auch ein Buch wert ist. Bei vielen vermeintlich belletristischen Lesungen hört man ermüdende „Er-sagt-sie-sagt“-Prosa (wir leihen uns die Formulierung vom Kitschkönig Ferdinand von Schirach, dessen neues Theaterstück „Er sagt. Sie sagt.“ am Verlagsstand der Gruppe Random House riesig beworben wird), parataktisch aneinandergereihte Langeweile.

Es kann daher auch nicht schon per se erfreuen, dass durch das Medium Tiktok ein neuer Lesetrend entstanden ist, der in Leipzig wohl die längste Schlange der Messe vor einem Stand erzeugt, bei dem junge Frauen mit pinken Einkaufskörben haufenweise Bücher zur Kasse bringen. Beim Verlag Lyx, einem Label von Bastei Lübbe für romantische Unterhaltung, symptomatischerweise direkt neben dem Stand von Suhrkamp, lassen Bücher mit oft englischen Titeln wie die Eishockey-Romanze „Icebreaker“ offenbar die Herzen der Käuferinnen höher schlagen, so wie die Klappentexte der meist gleich als Reihen angelegten Fließbandproduktionen es reihenweise versprechen; es gibt aber auch homoerotische Männerbücher und Fantasy oder die Kategorie „historisch“ im Programm, etwa „Meine ungezähmte Highland-Braut“.

Querfinanzierung zugunsten echter Belletristik

Vor dem Lyx-Stand fühlt man sich ähnlich wie vor den Läden für Bubble Tea und bunte Donuts, die in den Innenstädten Bäcker und Buchhandlungen sukzessive ersetzen. Nach Jahren der Hiobsbotschaften von beiden deutschen Buchmessen, nach der Pandemie, die besonders die Leipziger Messe gebeutelt hat, und nach Anzeichen, dass diese auf der Kippe steht, ist man freilich geneigt, schon zu feiern, dass es überhaupt weitergeht.

Aber im Booktok-Trend für völlig unliterarische (und, so wirkt es beim Reinlesen und beim Anschauen der Buchtitel, auch bisweilen sexistische) Romanzen die Rettung zu sehen wirkt doch ebenso zynisch, als feierte man die nicht enden wollenden Käuferschlangen vor dem Horrorschrott von Sebastian Fitzek in Frankfurt vergangenen Herbst als solche. Das gern vorgebrachte Argument der Querfinanzierung, mit der auch Traditionsverlage schon länger ihr literarisches Programm durch Bestseller absichern, sticht bei Lyx oder Droemer (Fitzeks Verlag) mit Sicherheit nicht, anderswo immerhin stellenweise, bedenkt man etwa, dass eine der erfolgreichsten Autorinnen der „Young Adult“- oder „New Adult“-Genres, Colleen Hoover, bei dtv verlegt wird.

Aber auch wenn dieser Verlag sich zurzeit literarisch wieder zu stärken versucht, scheint die Querfinanzierung zugunsten echter Belletristik kein allgemeines Gesetz zu sein. Der Konzern Random House etwa verfügt ja inzwischen über ein Portfolio einst stolzer Traditionsverlage, die, zu Imprints geworden, immer mehr an Sichtbarkeit verlieren, auch das findet am Gemeinschaftsstand der Gruppe in Leipzig Ausdruck, und der just verkündete drastische Stellenabbau bei Random House wird die Situation gewiss nicht verbessern.

Mit Blick auf das Publikum

Zum Glück hat der Mainstream aber auch in Leipzig noch nicht den Rest verdrängt. Die Tatsache, dass man auf der Messe – noch – extreme Unterschiede im Niveau empfinden kann: Das war bislang das Aushängeschild dieser Veranstaltung mit ihren nach wie vor vielseitigen, im Grunde unfassbar reichen Angeboten und kann auch in diesem Jahr als solches gelten. Man kann hier wählen zwischen weltbewegenden Themen und höchster Spezialisierung; insbesondere das literarische Programm in der Halle 5 ist nach wie vor beeindruckend, sowohl historische als auch aktuelle Themen betreffend.

Und es wird an­genommen: Dutzende, durchaus nicht nur Ältere, lauschen dem Übersetzer Friedhelm Rathjen bei Erinnerungen an Arno Schmidt und die Entstehung des „Dechiffriersyndikats“ für dessen Literatur, Dutzende der Autorin Angela Steidele bei einer „queeren“ Lektüre Annette von Droste-Hülshoffs, um nur zwei von zig Beispielen zu nennen.

Es gibt auf dieser Messe immer auch einen Schwerpunkt zum Verhältnis zwischen Ost und West in Deutschland – wer wissen will, sachlich und emotional, wie es darum steht, der muss hierherkommen und nicht nur die Diskussionen, sondern vor allem auch die Reaktionen des Publikums beobachten. Die bundespräsidiale Entgegnung auf Dirk Oschmanns pessimistischen Furor vom vergangenen Jahr erfährt eine weitere Differenzierung etwa bei der Vorstellung des Buches der Tagesthemen-Moderatorin Jessy Wellmer, dessen Titel „Die neue Entfremdung“ pessimistisch klingt, aber, wie Wellmer auf Podien beteuert, Verbesserung bewirken soll vor allem durch Abbau von Ignoranz gegenüber Ostdeutschland.

Ein doppeltes Alarmsignal

Dass die Leipziger Buchmesse so reichhaltig bleibt, steht indessen immer mehr infrage, besonders seit ihr langjähriger Chef Oliver Zille, man darf es so deuten, aus Enttäuschung aufgehört hat. Von vielen hört man Kritik daran, dass die Messe sich mit der Vielfalt des Lesefests „Leipzig liest“ brüste, es aber auf dem Rücken der Verlage austrage.

Die nach der Pandemie verschärften Bedingungen mit deutlich ­erhöhten Gebühren für Veranstaltungen (die die Verlage allermeist selbst finanzieren, also etwa Honorare und Reisekosten stemmen) lassen manche zweifeln, ob sie noch teilnehmen sollen oder können. ­Einige Verlage sind schon weggeblieben. Wenn die Förderung durch den deutschen Verlagspreis wegfalle, sagen manche, wären sie wohl auch weg. Andererseits berichten manche, dass sie am Stand auch durchaus gut verkaufen, die Präsenz auf der Messe ist also wichtig für sie.

Weil der Gesamteindruck diesmal der eines starken Zurückkommens und euphorischer Annahme der Angebote ist, entsteht somit eine Paradoxie: Einerseits wirkt endlich wieder alles wie zuvor, andererseits muss man fürchten, dass es schon bald nie wieder so sein wird. Die kulturferne Moderation der Eröffnungsfeier, die noch Tage später Gespräche bestimmte und viele fassungslos machte, ist ein Spiegelbild auch der öffentlich-recht­lichen Vorstellungen vom Umgang mit Kultur, also ein doppeltes Alarmsignal.