Pedro Almodóvars Erzählungen :
Warum die Wirklichkeit der Fiktion bedarf

Von Jobst Welge
Lesezeit: 4 Min.
Pedro Almodóvar am Set im Jahr 2022
Ein Schriftsteller von Jugend an: Der spanische Filmregisseur Pedro Almodóvar versammelt in „Der letzte Traum“ zwölf eigene Erzählungen aus fünf Jahrzehnten.

Pedro Almodóvar hat noch keine Autobiographie geschrieben. Am mangelnden Lebensstoff kann es nicht gelegen haben: Was hätte es da nicht alles zu erzählen gegeben, von der Kindheit in der Provinz von Ciudad Real in La Mancha, zur Erfahrung der Klosterschule in Cáceres, seinem Umzug nach Madrid im Jahr 1967 und dem dortigen Kontakt mit der experimentellen Film- und Theaterszene, der Movida der Siebzigerjahre, bis zum spektakulären Erfolg von „Alles über meine Mutter“ (1999) oder etwa seiner spannungsvollen Zusammenar­beit mit dem Schauspieler Antonio Banderas?

Auch an der mangelnden Befä­higung zum Schreiben lag es ganz sicher nicht. Es ist also sympathisch und souverän, dass Almodóvar statt Memoiren nun eine Sammlung von zwölf Erzählungen vorgelegt hat, die, wie der Autor im Vorwort schreibt, „einer fragmentierten, unvollständigen und etwas kryptischen Au­tobiographie denkbar na­he“ kommen.

Vorausdeutung auf seinen Film

Der mittlerweile vierundsiebzigjährige, international gefeierte Filmregisseur hat sich nicht erst auf seine alten Tage als Literat versucht, sondern die „Der letzte Traum“ versammelten Texte sind in dem langen Zeitrahmen von 1967 bis 2022 entstanden. Für ihre jetzige Veröffent­lichung macht Almodóvar vor allem das Betreiben seiner langjährigen Assistentin Lola García verantwortlich, die seine Texte über die Jahre hinweg archiviert hatte und der er nun das resultierende Buch gewidmet hat.

Es handelt sich also um ein intensives privates Schreibbedürfnis („Von klein auf sah ich mich als Schriftsteller“), das gleichzeitig erstaunlich formbewusst ist und uns ei­nen Almodóvar vor Augen führt, für den Kino, Leben und Literatur untrennbar verbunden sind. Dessen „literarische Be­rufung“ hier selbst immer wieder zum Thema wird.

Der erste Text des Bandes, „Der Besuch“, offenbar 1967, also noch vor dem Beginn der Filmkarriere entstanden, erzählt vom Besuch einer extravagant gekleideten Dame in einer Schule des Salesianerordens, mit dessen Direktor sie ei­ne alte Rechnung zu begleichen hat. Die Erzählung ist atmosphärisch dicht, zeichnet sich durch einen präzise ent­wickelten Dialog aus, von der Dramaturgie her ist es eine geradezu klassisch komponierte Kurzgeschichte. Für Kenner von Almodóvar ist ersichtlich, dass sie auf seinen späteren Film „Schlechte Erziehung“ (2004) vorausdeutet, in dem just eine Erzählung namens „Der Besuch“ eine zen­trale Rolle spielt.

„Schreibt alles nieder, was Euch durch den Kopf geht“

In der folgenden Geschichte berichtet ein Theaterregisseur in eher persönlich-anekdotischem Stil von seiner Liebes­beziehung zu einem Schauspieler namens León, dessen „unbändiger postmoderner Geist“ und „grenzüberschrei­ten­der Charakter“ ihn dazu ermutigen, sich mit ihm gemeinsam die Werke von Tennessee Williams („Endstation Sehnsucht“), Jean Cocteau („Die menschliche Stimme“) und John Cassavetes („Opening Night“) neu, und das heißt natürlich aus queerer Perspektive, anzueignen.

Dass die ansonsten hervorragende Übersetzung von Angelica Ammar diese Erzählung mit dem Titel „Zu viele Geschlechtsumwandlungen“ (im Original: „Demasiados cambios de género“) versieht, ist unglücklich, da die darin geschilderte Ersetzung der Rolle der Blanche du Bois aus Williams’ Stück durch einen männlichen Part („Blanco del Bosque“) einen Geschlechtswechsel, aber eben keine Geschlechtsumwandlung darstellt. Außerdem bezeichnet das spanische Wort für Geschlecht, „género“, auch „Genre“ — und diese osmo­tische Beziehung zwischen Film und Theater ist hier mitgemeint.

Das Cover zu Pedro Amodóvars Erzählungsband
Das Cover zu Pedro Amodóvars ErzählungsbandVerlag

Weitere Erzählungen versuchen sich an von Camp infizierten Pastiches literarischer Genres: In „Die Spiegelzeremonie“ ist das der Vampir- und Schauer­roman, mit einer expliziten Reverenz an Matthew Lewis’ „Der Mönch“ (1796), in „Johanna, das Wahnröschen“ ist es die Form des historischen Märchens, in „Die Erlösung“ eine blasphemische Um­deu­tung der Figur des Barrabas aus den Evangelien — hier erzählt aus der Per­spektive des Kerkermeisters.

Alles über seine Mutter? Hier findet sich noch Neues

Das titelgebende kurze Stück „Der letzte Traum“ ist eine bewegende Hommage an Almodóvars Mutter, geschrieben anlässlich ihres Todes. Die Mutter hatte einst auf dem Land den analphabetischen Nachbarn aus Briefen vorgelesen und diese dabei freimütig „ergänzt“ – eine Lektion für Almodóvar, der auf diese Weise lernte, „dass die Wirklichkeit der Fiktion bedarf, um vollständiger, angenehmer, lebenswerter zu sein“. Eine weitere Hommage („Adieu, Vulkan“) gilt der 2012 ver­storbenen mexikanischen Sängerin Chavela Vargas, mit der Almodóvar befreundet war und deren Lieder sich auf den Soundtracks mehrerer seiner Filme finden.

Die Erzählung „Leben und Tod des Miguel“ (laut Almodóvar der einzige Text, den er nachträglich einer „leichten Überarbeitung“ unterzogen hat) schildert das Leben eines Schriftstellers in umgekehrter Chronologie, vom Tod bis zur Geburt. Das wirkt manchmal etwas forciert, aber hier zeigt sich eine erstaunliche literarische Experimentierfreudigkeit, und in der paradoxen Verschränkung von Zeit, Leben und Tod gelingen pointierte Sätze, etwa wenn am Schluss der „Tod“ von Miguel dem Moment seines Heranwachsens im Mutterleib entspricht: „Während der nächsten neun Monate wird Miguel nach und nach in ihr erlöschen. Danach wird niemand mehr an ihn denken.“

Der letzte und jüngste Text des Bandes („Ein schlechter Roman“) ist eine essayistische Reflexion über das Schreiben, über das Verhältnis von Drehbuch und Roman, die Wahlverwandtschaft des Autors mit den Verfassern „literarischer“ Drehbücher (Rohmer, Bergman). Bei Emmanuel Carrère findet er ein Zitat von Ludwig Börne, über die „Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden“: „Schreibt […] alles nieder, was Euch durch den Kopf geht.“ Auf die Kunst, zu schreiben, „was ihn das Herz gelehrt“ (Börne), mal durchkomponiert, mal improvisiert, hat Almodóvar ein ganzes Künstlerleben verwandt.

Pedro Almodóvar: „Der letzte Traum“. Zwölf Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024.400 S., geb., 24,– €.