Rezension „Ein falsches Wort“ :
Vier Geschwister, zwei Sommerhäuser, ein Testament

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Erbittert streiten die Erben um zwei Hütten im norwegischen Nationalpark Hvaler.
Geld als Gradmesser für emotionale Zuwendung: Vigdis Hjorth entfachte mit ihrem Roman eine Familienfehde und eine Literaturdebatte. Dabei ist „Ein falsches Wort“ vor allem toll grimmige Literatur.

Der Roman war gerade rechtzeitig ausgelesen, um zu nächtlicher Stunde noch die Oscarverleihung anzuschauen, als dieser ungeheuerliche Satz fiel. Da sagte Robert Downey Jr., die wichtigste Auszeichnung des amerikanischen Kinos in Händen: „I would like to thank my terrible childhood and the Academy – in that order.“ Er dankte in erste Linie also nicht der Academy, die ihm den Preis für seine Rolle im Film „Oppenheimer“ zuerkannte, sondern seiner schrecklichen Kindheit. Seine Frau habe ihn, „den verletzten Köter“, erst wieder zum Leben erweckt. Selbst wenn man die Portion amerika­nische Selbstinszenierung wegrechnet, bleibt das Monströse einer frühen Erfahrung, die den Schauspieler noch auf der Höhe seines Ruhmes so sehr gefangen hält, dass er darauf zu sprechen kommen muss, und sei es, um sich grimmig lächelnd davon zu befreien wie von einem bösen Zauber.

Sollte die norwegische Schriftstellerin Vigdis Hjorth die Oscarverleihung ebenfalls gesehen haben, wird sie sich womöglich gekniffen haben. Denn ihr Roman „Arv og miljø“ aus dem Jahr 2016, der jetzt in der Übersetzung von Gabriele Haefs unter dem Titel „Ein falsches Wort“ bei S. Fischer erscheint – die deutsche Erstausgabe „Bergljots Familie“ beim Osburg Verlag wurde 2019 praktisch übersehen –, handelt genau davon: wie eine kindliche Erfahrung, die zunächst jahrzehntelang unsichtbar blieb wie ein Atom, urplötzlich durch die Er­innerung gespalten wird und die Wucht ei­nes Atompilzes entfaltet, der die Ge­genwart der Ich-Erzählerin und alles um sie herum wegsprengt.

Erbstreitigkeiten bringen Familiendramen hervor

Bergljot heißt diese Ich-Erzählerin, die als Dramatikerin, Journalistin und Mutter von drei Kindern in Oslo lebt, als sie plötzlich heimgesucht wird davon, was ihr als Kind in der vertrautesten Umgebung überhaupt, der eigenen Familie, widerfuhr. Daraufhin löst sie den Kontakt zu Eltern, Schwestern und Bruder. Jahre später, nun sind wir auf der Handlungsebene des Romans, kommt die atomisierte Familie erstmals wieder zu­sammen, denn der Vater ist gestorben, und es gibt Erbstreitigkeiten. Zwar wurde das Erbe der notariellen Urkunde gemäß unter den vier Kindern gleichwertig aufgeteilt. Doch die beiden Ferienhütten im Nationalpark Hvaler bekommen die Schwestern, Bergljot und ihr Bruder gehen leer aus. Vordergründig dreht sich der Streit also um Geld, Immobilien und Haben oder Nichthaben – tatsächlich aber wird Geld hier zum materiellen Ausdruck und Gratmesser für erhaltene oder verweigerte Zuwendung.

Als der Roman in Norwegen erschien, löste er ein mittleres Beben aus. Zum ei­nen, weil Hjorths Familie, auch wenn die Autorin beteuerte, Autofiktion geschrieben zu haben, sich in ihrer Prosa er- und noch mehr verkannt fühlte und zum Ge­genschlag ausholte. Doch die Juristin Helga Hjorth zog nicht etwa vor Gericht, sondern schrieb selbst einen Roman, „Fri vilje“ (Freier Wille), um ihre Schwester mit deren Waffen zu schlagen, während die Mutter gegen eine Theateradaption klagte. Zum andern entfachte Vigdis Hjorths Bestseller eine Debatte über die Doppelbödigkeit einer aus dem Leben gespeisten Literatur und die Frage, wie Fiktion und Autofiktion zueinander stehen.

Sie will ihre Geschichte erzählen, aber niemand hört zu

Bei so viel Drama darf über die Prosa von Vigdis Hjorth dabei keinesfalls hinweggegangen werden. „Ein falsches Wort“ ist tatsächlich ein raffiniertes, abgründiges und kluges Stück Literatur. Das zeigt sich schon daran, dass der Roman den eigentlichen Skandal gar nicht ins Zentrum stellt – dass es um Inzest geht, erfährt man erst spät. Die Erzählung kreist vielmehr manisch obsessiv darum, dass hier ein Mensch – Bergljot – mit ihrer Version einer Geschichte partout kein Gehör findet und daran verzweifelt.

Mit Ibsen’scher Rücksichtslosigkeit skizziert Hjorth den harten Mechanismus von Familien – und wie sehr das Vergan­gene auf der Gegenwart lastet. Dass der Vater seine Tochter im Alter von fünf bis sieben Jahren missbrauchte, daran erinnert sie sich erst wieder, als sie selbst Mutter ist. Der Vater war auch sonst ein Peiniger, der seinen Sohn prügelte und seine Frau schlug. Doch selbst dass er von der kleinen Bergljot abließ, brachte keine Entlastung, denn fortan lebte er in der Angst, seine Tochter könnte sich erinnern, und tyrannisierte sein Umfeld auf andere Weise. Die bürger­liche, nach außen stets den Schein wahrende Familie war deshalb schon lange kaputt, ehe die älteste Tochter den Bruch für alle sichtbar vollzog.

Vigdis Hjorth
Vigdis HjorthAgnete Brun

Vigdis Hjorth, die 1959 in Oslo geboren wurde und zu den anerkanntesten Autorinnen Norwegens gehört, hat seit ih­rem Debüt 1983 mehr als zwanzig Romane geschrieben und viele Preise erhalten. International bekannt wurde sie aber erst mit „Arv og miljø“, was sich mit „Erbe und Milieu“ übersetzten lässt und von der „Sidney Times“ bis zum „New Yorker“ gefeiert wurde. Und stets wurde sie ver­­glichen mit ihrem Landsmann Karl Ove Knausgård, dabei könnte man nicht falscher liegen als damit, ihre Prosa mit dessen autobiographischer Mammutserie „Min Kamp“ zu vergleichen. Hjorth braucht nicht nur nicht sechs Bände und 4500 Seiten wie Knausgård, ihr reichen 400 Seiten.

Vor allem aber hat sie nichts von dessen literarischem Überwältigungsfuror. Ihre Prosa lässt sich woanders verorten: bei feministischen Künstlerinnen wie Marina Abramović, bei Lyrikerinnen wie Sylvia Plath oder Gunvor Hofmo, der 1921 in einem Armenviertel von Oslo geborenen Dichterin, die für ihre Verse der Trauer, Verzweiflung und Unbehaustheit in ihrer Heimat als „Sängerin der Finsternis“ verehrt wird, oder der dänischen Autorin Tove Ditlevsen (1917 bis 1976), die hierzulande vom Aufbau Verlag mit ihrer Kopenhagen-Trilogie jüngst wiederentdeckt wurde und von der die für Hjorth so signifikanten Zeilen stammen: „Der Kindheit kann man nicht entkommen, sie hängt an einem wie ein Geruch.“

Ist der eigenen Er­innerung zu trauen?

Wer Knausgård zu lesen für eine Zumutung hält ob der prätentiösen Beschreibung gelebten Lebens, findet bei Hjorth Literarizität. Ihre Prosa ist einerseits verdichtet, metaphorisch und essayistisch durchsetzt. Andererseits rekapituliert sie auf der Textebene, was die Ich-Erzählerin emotional umtreibt: Ist der eigenen Er­innerung überhaupt zu trauen – und wer urteilt darüber? Darf man seine Herkunftsfamilie verlassen, und was hat das für Folgen für die eigenen Kinder? „Ein falsches Wort“ kreist ein ums andere Mal um die Fragen dieser höchst unzuverlässigen Erzählerin, die gern mal einen über den Durst trinkt und die Erste ist, die sich selbst infrage stellt – dabei aber nie akzeptieren kann, wenn andere das tun.

Die ständigen Wiederholungen der immerselben Gedanken, die in Telefonaten, E-Mails oder Briefen nochmals aufgegriffen werden, werden bei der Lektüre mitunter selbst so quälerisch wie die Suchbewegungen für Bergljot. Der Text zieht sich manchmal in schier endlosen Sätzen in die Länge, um dann mit nur einem einzigen Satz auf einer Seite den Rhythmus zu brechen und neu anzusetzen. Man ist den Schleifen und Zweifeln ausgesetzt, die Hjorth in scheinbar alltägliche Banalitäten einbettet. Und nicht nur die Eltern hinterlassen ein Testament. Bergljot selbst will Zeugnis ab­legen, und zwar ausgerechnet während der Testamentseröffnung, zu der sich die Familie bei der Notarin versammelt hat. Wie sie mit ihrem neuerlichen Versuch scheitert, von denen gehört zu werden, die sie nicht hören wollen und die auf ihr Schweigen zugleich angewiesen sind. Denn es gilt das Gesetz: Entweder du gehörst dazu, oder du bist raus.

Wer leidet, glaubt Bergljot, sei kein besserer, sondern meistens sogar ein schlechterer Mensch. In dieser dysfunktionalen Familie leuchtet Hjorth jeden Winkel aus und schont niemanden, auch nicht die Erzählerin vor ihrem Selbst­betrug. Wer nach „Ein falsches Wort“ noch nicht genug hat, dem sei Hjorths Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ empfohlen, der zwar schon voriges Jahr auf Deutsch erschienen ist, eigentlich aber den Folgeroman darstellt. Darin schreibt Hjorth noch konzentrierter, meist nur in indirekter Rede und mit nur noch ganz wenigen tatsächlichen Szenen über eine erwachsene Frau, die den Kontakt zu ihrer alten Mutter sucht, die sich ihr verweigert.

Auch hier geht es um Schulden zwischen Eltern und Kindern. An einer Stelle heißt es, dass niemand Kinder bekommen würde, wenn man wüsste, wie wichtig die Kindheit ist. Keiner kommt bei Vigdis Hjorth ungeschoren davon. Und der Vergangenheit entkommt auch nicht, wer für das Familiengericht mit Literaturpreisen geehrt oder von Hollywood beklatscht wird.