Richard Löwenthal :
Unsere Studenten singen kein deutsches Sondergut mehr

Von Martin Otto
Lesezeit: 3 Min.
Raumbegreifend: Richard Löwenthal, von Freunden wie Heinrich August Winkler „Rix“ gerufen, am 7. Juni 1983
Den Weltbildverlust der Achtundsechziger hielt der Politikwissenschaftler für gemeinwestlich: Der Historiker Riccardo Bavaj porträtiert Richard Löwenthal, einen Liberalen im Kalten Krieg.

Für Carl Schmitt gab es keine liberale Politik, sondern nur liberale Kritik an der Politik – so das berühmte Zitat aus der „Verfassungslehre“ von 1927. Bei dem Historiker Riccardo Bavaj (St. Andrews) ist an Spielarten des Liberalismus dagegen kein Mangel. In seiner politikwissenschaftlichen Panoplie finden sich der zwischen individueller Freiheit und sozialer Gleichheit ausgleichende „consensus liberalism“, der „New Deal liberalism“ der Roosevelt-Verehrer und als Variante eines negativen Liberalismus der „liberalism of ­fear“ der lettisch-amerikanischen Politologin Judith Shklar, der bei der Gefahrenabwehr ansetzt. Hinzu kommen der „Vital Center Liberalism“ mit ei­nem Slogan des Roosevelt-Zeitgenossen Arthur Schlesinger im Namen, eher links davon ein „social-democratic liberalism“ und wiederum in der Mitte die Mäßigung eines „tempered liberalism“.

Bavaj räumt Schnittmengen ein, grenzt aber, obwohl die meisten dieser Konzepte aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammen, von ihnen ei­nen besonderen „Liberalismus des Kalten Krieges“ ab. Der Name klingt zunächst wie ein Widerspruch, denn nicht wenige, die sich liberal verstanden, wollten gerade keine Kalten Krieger sein. Bavaj bezieht sich auf den in Princeton lehrenden Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, der den Begriff 2008 vorgeschlagen hat. Eine gewisse Schnittmenge besteht mit dem von Jens Hacke als „Identitätsressource“ der Bundesrepublik ausgemachten liberalen Konservatismus. Während Hacke diesen an der Schule des Münsteraner Philosophen Joachim Ritter festmacht, ist für Bavaj der 1991 verstorbene Berliner Politikwissenschaftler Ri­chard Löwenthal der paradigmatische Vertreter des „cold war liberalism“. Ihm widmet der Schüler Klaus Hildebrands einen Aufsatz in der Zeitschrift „History of European Ideas“ (Bd. 49, Heft 3, 2023 / Routledge).

Chefintellektueller der Berliner SPD

Löwenthal, von seinen Freunden „Rix“ genannt, lehrte nach hauptsächlich journalistischer Tätigkeit seit 1961 am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität und war eine West-Berliner Institution, eine Art Chefintellektueller der Berliner SPD vor 1968. Ähnlich wie deren Protagonisten im Amt des Regierenden Bürgermeisters, Ernst Reuter und Willy Brandt, stand er für Antitotalitarismus und klare Westbindung. Und wie die genannten Politiker war der aus einer bürgerlichen jüdischen Familie stammende Löwenthal, geboren 1908 in Berlin-Charlottenburg, in der Jugend radikaler gewesen. Bis 1929 gehörte er der KPD und einer kommunistischen Studentenorganisation an. Von 1933 an im Exil, suchte er in der sozialistischen Oppositionsgruppe „Neu Beginnen“ zunächst nach „Dritten Wegen“. Der Stalinismus hatte zu einer Absage nicht nur an den Kommunismus, sondern insgesamt an einen „russischen“ Osten geführt. Bestärkt wurde dies im englischen Exil durch Kontakte zur Fabian Society, dem reformerischen Intellektuellenbund der Labour-Bewegung.

Bavaj weist luzide nach, dass Löwenthals politisches Denken auch eine klare räumliche Dimension („spatial dimension“) besaß. Für ihn gehörten die Sowjetunion und Russland nicht zum demokratischen „Westen“, und auch diese Himmelsrichtung hatte bei ihm klare politische Konturen. Deutschland gehörte zu Europa, Russland nicht. Hatte Löwenthal zuerst protestierende Studenten nicht nur in West-Berlin begrüßt, nahm er 1968 bald eine sehr kritische Position ein, bis hin zu einem Engagement in der konservativen Professorenorganisation Bund Freiheit der Wissenschaft. Anders als andere Mitglieder dieser Vereinigung sah Löwenthal keine Wiederkehr des deutschen Sonderweges; für ihn waren die irrationalen Züge der Studenten nicht auf die Bundesrepublik beschränkt und bestätigten eher deren Verankerung im Westen, den Löwen­thal seit den Sechzigerjahren grundsätzlich in einer Krise sah: Der ganze Westen spielt verrückt, besonders die Studenten. Und anders als Willy Brandt sah Löwenthal später auch die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen, die die Partei der Grünen eingeschlossen, sehr skeptisch. Aber auch hier ging sein Blick über den Tellerrand; Löwen­thal sprach von einem Zeitalter des europäischen Selbstzweifels und dia­gnostizierte „Weltbildverlust“.

Die räumliche Dimension von Löwenthals Liberalismus scheint auf die aktuelle Situation in Europa zu passen. Das raumpolitische Argument war dabei nicht neu, auch Löwenthal hatte nicht nur seinen Tocqueville gelesen und sah sich nicht als Erfinder von Begriffen. Letztlich war der Liberalismus Löwenthals in der nachvollziehbaren Deutung Bavajs ein geopolitisch fundierter. Ein solcher Ansatz wurde lange mit wenig liberalen Denkern wie dem Geographen Karl Haushofer oder den Großraumordnungen Schmitts verbunden. In Löwenthals räumlichem Liberalismus gehörte die Ukraine eindeutig zu Europa. Unter den Autoren der Festschrift zu seinem siebzigsten Geburtstag war der deutsch-ukrainische Publizist Borys Lewytzkyj. Zu dessen Buch „Die Marschälle und die Politik“, einer Studie „über den Stellenwert des Militärs innerhalb des Sowjetischen Systems“, schrieb Löwenthal 1971 das Vorwort.