Stichwort Blasendenken :
Streit irgendwo

Von Nils C. Kumkar
Lesezeit: 4 Min.
Was aber die geplante Steuererhöhung angeht, Mitbürger, so bin ich entschieden dagegen: Markus Söder möchte sich nicht nachsagen lassen, dass er in der Politikerblase lebt, und sprach daher am 12. Januar 2024 auf einer Kundgebung des Bauernverbandes in Nürnberg.
Klischees gibt man als unaussprechlich aus: So durchbricht die AfD vermeintliche Verbote, und so vollzieht der Kommentar, der scheinbar originell sein will, die Logik seiner Gattung.

Wenn man sich die öffentlichen Debatten nicht als edlen Wettstreit um das beste Argument vorstellt, sondern als von den Eigenlogiken des politischen Systems und den Massenmedien strukturierte Kommunikation, verstellt man sich die Möglichkeit, sich über vieles aufzuregen, was den hehren Eigenbeschreibungen des politischen Kommentarwesens widerspricht. Man gewinnt auch etwas: die Möglichkeit der Einsicht, dass bestimmte Formen der Stellungnahme nach der Eigenlogik der Massenmedien und der Politik so schlüssig erscheinen, dass sie zu erwarten sind, auch wenn sie jeder Evidenz spotten. So funktionieren die viel beschrienen alternativen Fakten, aber so tradieren sich auch unauffälligere Klischees und Mythen der Politik.

Sosehr der internationale Aufstieg des Rechtspopulismus dafür spricht, dass es sich um die Bearbeitung eines systemischen Problems handelt, so sehr tendieren politische Kommentare in jedem Land, in dem der Aufstieg beobachtet wird, dazu, ihn mit ganz spezifischen nationalen Entwicklungen zu erklären. Dass die erste schwarz-blaue Koalition in Österreich an die Regierung kam, bevor die AfD auch nur gegründet war, dass Victor Orban in Ungarn schon regierte, als Angela Merkel ihr „wir schaffen das“ aussprach, dass Trump ganz ohne eine solche vermeintliche Grenzöffnung gerade gewählt wurde, als die wirtschaftliche Lage in den Vereinigten Staaten sich von der Finanzkrise weitgehend erholt hatte, all das ficht die Behauptung nicht an, dass der Aufstieg der AfD auf Merkels zu liberale Migrationspolitik und dann vor allem auf die Inkompetenz der Ampelregierung und sowieso auf die ideologisierten Denkverbote zurückzuführen sei, die es nur in Deutschland gebe. Warum? Weil man nur so Stiche im nationalen politischen Spiel machen kann. Immer ist der politische Gegner schuld am Aufstieg des Rechtspopulismus, nie hilft etwas anderes, als einen selbst zu unterstützen. Die „Selbstkritik“, die Politiker üben, wenn sie über den Aufstieg der AfD sprechen, folgt einem vorhersehbaren Muster, nach dem das Problem immer ist, dass man nicht konsequent genug getan habe, was man ohnehin schon vorhatte.

Alternative zu den Alternativen zur AfD

Die jüngsten Absetzbewegungen von den Demonstrationen gegen die AfD bei konservativen Politikern, aber auch bei Journalisten entsprechen dem Muster. Politiker möchten sich nicht nur als Alternative zur AfD empfehlen, sondern vor allem auch als Alternative zu den anderen Alternativen zur AfD. Erste Umfragen legen zwar nahe, dass die Proteste gegen die AfD sie schwächen, aber die Sorge vor linken Vereinseitigungen des Protestgeschehens und davon ausgelösten Solidarisierungseffekten bei der AfD-Wählerschaft drängt sich als Möglichkeit, sich ins Gespräch zu bringen, einfach zu stark auf, als dass man darauf verzichten könnte.

In Deutschland fehle „eine ehrliche und nachhaltige Debatte“ über Migration; ein „Blasendenken“, das die „desinfizierende“ freie Rede verhindere, habe die AfD stark gemacht – das gibt Jochen Bittner aus London ausgerechnet in der „Zeit“ zu bedenken, die schon 2018 mit einem Pro und vor allem einem Contra zur Legitimität ziviler Seenotrettung im Mittelmeer deutlich machte, dass man in der deutschen Öffentlichkeit durchaus keine Sorge haben muss, mit Migrationskritik nicht vorzukommen. Die Thesen von Bittners Kommentar bringen ziemlich genau die Eigentheorie auf den Punkt, welche die AfD selbst zu ihrem Aufstieg vertritt. Doch über Probleme der Migration wurde und wird konstant und lautstark debattiert – bis hin zum Kanzler, der Abschiebungen im großen Stil forderte, und seinem möglichen Herausforderer Markus Söder, der stolz die teuerste Bezahlkarte für Asylsuchende verspricht. Nicht ein Sprechverbot hat die AfD stark gemacht, sondern die Behauptung dieses Verbots.

So wie die AfD im politischen System davon profitiert, dass ihre Identitätsbehauptung als Fundamentalopposition sich keiner ernsthaften Konkurrenz aussetzen muss und von den anderen Parteien bestätigt wird, so zehrt ihre öffentliche Inszenierung auch davon, dass der Fluch des aparten Kommentars darin besteht, glaubhaft vermitteln zu müssen, Unausgesprochenes auszusprechen, was bei verbreiteten Allgemeinplätzen am einfachsten gelingt, wenn man sie als bisher unaus­sprechlich darstellt. Beide Elemente, die stanzenhafte Verknappung aufs Klischee und die Behauptung, dass gerade das Wiederholen dieser Klischees ein Akt unerhörter Redefreiheit sei, fungieren in der Plattform der AfD als zentrale Planken, im Doppelsinn von Inhalt und Instrument.

Von Gauland über Reckwitz zu den Koalitionsspitzen

Wie eine Neuigkeit führt der Neu-Londoner Bittner die Unterscheidung seines Journalistenkollegen David Goodhart zwi­schen Anywheres und Somewheres ein, die schon vor Jahren über Alexander Gauland hinaus, auf dem Umweg über Andreas Reckwitz, bis ins Führungspersonal der Ampelparteien als anregender Beitrag zur Debatte goutiert wurde. Man könnte also zunächst feststellen, dass es sich mitnichten um eine Neuigkeit handelt. Man könnte bei Interesse an Empirie auch erwähnen, dass es jenseits wie diesseits dieser Unterscheidung viele verkomplizierende Konflikte gibt, welche die Erklärkraft dieser Figur fraglich machen, man könnte kurzum wissen, dass es sich bei dieser Deutungsfigur um eine verbreitete Halbwahrheit handelt, mit der die AfD in ihrer Rolle als Fürsprecher des kleinen Mannes bestätigt wird.

Das „Blasendenken“ deckt aber diese Offensichtlichkeit zu. Die fixe Idee der Filterblasen, die paradoxerweise zugleich erklären soll, warum überhaupt nur noch eine Meinung öffentlich vorkommt (nämlich die, gegen man anschreibt) und warum diese Meinung zugleich schrecklich provinziell ist (weil sie sich von der in den anderen Blasen, in die man selbstverständlich Einblicke hat, woher auch immer, markant unterscheidet), ist als theoretisch ausgedorrte und empirisch mehr als wacklige Nachfolge der Ideologiekritik wohl auch deshalb nicht totzukriegen. Das Blasendenken ist das Klischee, mit dem sich Klischees die Aura des Tabubruchs geben.