Innovationsscheu? :
Krise der Germanistik

Von Klaus Birnstiel
Lesezeit: 4 Min.
Sind Grimms Märchen wie der Froschkönig heute „hochproblematische Texte“?
Trügerische Sicherheit trotz Krisenrhetorik: Jan Süselbeck sieht die Germanistik von der Abrissbirne bedroht. Sein Blick vom Ausland auf die Wissenschaft vom Deutschen ist erhellend.

Spätestens seit dem Zeitalter der westdeutschen Hochschulreform in den Sechziger- und Siebzigerjahren scheint sich kaum etwas besser auf den Namen des philologischen und kulturwissenschaftlichen Universitätsfachs Germanistik zu reimen als die ohnehin allzeit und überall beschworene Krise. Die Germanistik musste sich in der Krise sehen, als auf den Germanistentagen in München und Berlin 1966 und 1968 das ganze Ausmaß ihrer unter den Wortwolken der sogenannten Werkimmanenz verschleierten NS-Verstrickung offen zutage trat. In der Krise fand sich die Germanistik auch im folgenden Jahrzehnt, als sie den Massenansturm von Lehramtsanwärtern quantitativ wie qualitativ kaum mehr bewältigen konnte.

Und eine forcierte Methodendiskussion (eigentlich, sollte man meinen, ein Qualitätsmerkmal des Faches) wird seit mehr als vierzig Jahren von vielen als Dauerkrise wahrgenommen, der mit den immergleichen Rezepten abgeholfen werden soll: Fordern die einen eine stete Erweiterung und Modernisierung des Faches unter dem Schlagwort Kulturwissenschaft (in dessen langem Schatten auch die in den vergangenen Jahren so eifrig diskutierten Differenzanalysen entlang von Klasse, Geschlecht, „Rasse“ und so weiter zu lokalisieren sind), verlangen die anderen eine Rückbesinnung auf philologisches Handwerk und literaturgeschichtliches Wissen.

Angesichts tatsächlich sinkender Studierendenzahlen und der eher gefühlten Wahrnehmung sich immer weiter verschlechternder Lesefähigkeiten erschallt auch immer wieder der fromme Wunsch, die Germanistik möge sich besinnen und ihrer Kundschaft nahelegen, die Nasen einfach wieder öfter in die Bücher zu stecken.

Namhafte Institute gibt es auch im Ausland

Eine weitaus interessantere Perspektive hat nun der in Trondheim lehrende Germanist Jan Süselbeck eingebracht. Unter dem reichlich martialischen Titel „Der dröhnende Klang der Abrissbirne“ nimmt Süselbeck in der Februar-Ausgabe von literaturkritik.de, dem seit 1999 erscheinenden, von dem Marburger Germanistik-Professor Thomas Anz begründeten und bis heute herausgegebenen Onlineorgan, gleich „die globale Krise“ der Germanistik in den Blick. Von dort aus legt er einige Rückschlüsse auf die Situation des Faches im Inland nahe.

Die Zukunft der Germanistik ist auf alle Fälle weiblich, und sie kommt keineswegs ohne Lateinkenntnisse aus: Harriett Jernigan von der Stanford-Universität (links) hielt auf dem Kongress der German Studies Association in Montréal im Oktober 2023 einen Vortrag über deutschen und österreichischen Humor.
Die Zukunft der Germanistik ist auf alle Fälle weiblich, und sie kommt keineswegs ohne Lateinkenntnisse aus: Harriett Jernigan von der Stanford-Universität (links) hielt auf dem Kongress der German Studies Association in Montréal im Oktober 2023 einen Vortrag über deutschen und österreichischen Humor.Stanford University

Süselbeck kann das aus eigener Anschauung tun, muss er sich doch selbst mit dem Etikett des Auslandsgermanisten herumärgern, jener spöttischen Schmähung, mit der die Ordinarien in den Grenzen des aktuellen und der vergangenen deutschen Staaten die Kollegen zu bedenken pflegten, deren Dienstorte etwas weiter weg von Deutschlands Schicksalsfluss lagen. Zwar bot die sogenannte Auslandsgermanistik spätestens seit der erzwungenen Emigration der Dreißigerjahre und weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus etlichen klugen Köpfen und wichtigen wissenschaftlichen Tendenzen eine Heimat, doch wurde und wird sie vielfach als nachrangige Sekundärdisziplin begriffen. Dass es auch im Ausland namhafte germanistische Institute gibt, an denen tatsächlich nicht nur gescheiterte deutsche Privatdozenten ihr Gnadenbrot essen, sondern international weithin sichtbare Forschung und Lehre betrieben wird, hat sich noch immer nicht überall herumgesprochen.

Dem Fach Deutsch, Germanistik oder German Studies aber droht beinahe überall Ungemach. Süselbeck beschreibt das Wirken der Abrissbirne an germanistischen Instituten und Studiengängen in den Vereinigten Staaten, Kanada oder Großbritannien zunächst mit der nötigen Drastik. Wo der nicht nur intrinsische, sondern tatsächlich auch praktische Wert des Erwerbs einer Fremdsprache wie des Deutschen regierungs- oder verwaltungsseitig grundsätzlich in Abrede gestellt wird, da ist es offenbar auch ein Leichtes, ganze Studienprogramme zu schließen und das nicht verbeamtete akademische Personal entweder drastisch zu reduzieren, in irgendwelche diffusen Querschnittsbereiche umzusetzen oder gleich ganz zu entlassen. Aufsehen erregten etwa handstreichartig umgesetzte Kürzungen und Entlassungen am Queens College der City University of New York – ein Fall, den auch Süselbeck streift.

Auf die Krise folgt auch die Innovation

Der Druck auf das Fach verschärft sich offenbar, doch weist Süselbeck darauf hin, dass sich die Germanistik etwa in den Vereinigen Staaten schon seit Jahrzehnten einem schleichenden Bedeutungsverlust stellen muss. Auf die Krise folgt hier nicht nur das Wehklagen, sondern die Innovation: Schon seit den Achtzigerjahren verstehen sich die amerikanischen Kolleginnen und Kollegen nicht mehr zwingend als Germanisten, sondern betreiben eben German Studies. Damit sind sie, so Süselbeck, jenem Ruf nach kulturwissenschaftlicher und gesellschaftspolitisch relevanter Weiterung des Fachs, der hierzulande immer wieder ertönt, schon längst gefolgt.

Süselbeck singt das Loblied eines sich in beinahe alle Richtungen öffnenden Fachs, das Studierenden nicht nur die Möglichkeit bietet, über race, class und gender auch anhand der deutschsprachigen Literatur zu diskutieren, sondern Lesende überhaupt als solche ernst nimmt und ihre zunehmend diversen Hintergründe nicht mehr in den Bereich des vermeintlich Vorakademischen verweist. Die interessantesten Fragen werden, so Süselbeck, denn auch nicht mehr auf Veranstaltungen wie dem Paderborner Germanistentag 2022 gestellt, sondern etwa auf der Versammlung der German Studies Association im Oktober 2023 in Montréal.

Süselbeck tut einiges, der Tristesse der Inlandsgermanistik mit ihren „Massen ambitionsloser Lehramtsstudierender oder GrundschuldidaktikerInnen“ die lebendige Vielfalt des sich erneuernden amerikanischen Betriebs gegenüberzustellen, und man mag ihm das alles sofort glauben. Ob es allerdings so eine gute Idee ist, auf eine tiefere Beschäftigung mit älteren Methoden wie der Psychoanalyse zu verzichten oder Grimms Märchen „nur noch als ­hochproblematische, teils offen antisemitische Texte“ zu verhandeln, sei dahingestellt.

Zu denken gibt der Sub- oder besser Klartext von Süselbecks Darlegungen. Auch die immer noch so selbstsichere Inlandsgermanistik wird schrumpfen. Die Empirie ist eindeutig und lässt sich weder von der Kultusbürokratie noch von den Lehrstuhlinhabern wegreden. Wer sich nicht verändert, wird verändert. Wenn es der Germanistik weiterhin nicht gelingt, in ausreichendem Maß gegenwartsfähig zu werden, das heißt inhaltlich, methodisch, personell und im Umgang mit Studierenden Diversität nicht aus-, sondern einzuladen, so hat sie auch intra muros keine Zukunft.