Flaco und die Tierethik :
Buho! Keine Antwort

Von Nicole Karafyllis
Lesezeit: 3 Min.
Eine Eule im Radio: Stündlich wurden die New Yorker über Sichtungen Flacos unterrichtet. Dieses Foto nahm David Lei am 3. Januar 2024 auf.

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Ein Jahr lang hat der aus dem Zoo im Central Park entfleuchte, auf den Namen Flaco getaufte Uhu über die Nächte in New York und die Phantasie der New Yorker geherrscht. Was sagt er der Tierethik?

Flaco der Uhu ist tot. Ein Jahr hat er über die Nächte in New York geherrscht und unter den Menschen positive Energie verbreitet wie Batman in Gotham City. Natürlicherweise gibt es in den Amerikas keine Uhus beziehungsweise „Eurasian Eagle-Owls“. Die erhabene Flügelspannweite der Adlereule von 1,70 Meter konnte Flaco erst im letzten Jahr voll ausbreiten. Zuvor waren die Grenzen der Käfige die Grenzen seiner Welt.

In einem Vogelpark in North Carolina schlüpft er am 15. März 2010 aus dem Ei. Im Alter von zwei Monaten wird er in den Zoo des Central Park nach New York gebracht und in eine Voliere gesperrt. Artgerechte Haltung sieht anders aus. Gefüttert lebt er dort fast 13 Jahre, bis eines Nachts vandalisierende Personen ein Loch in seine Behausung schneiden, durch das Flaco entwischt. In der Nacht des 2. Februar 2023 sitzt der aufgeplusterte Vogel verwirrt und unter Polizeischutz auf dem Gehweg in Manhattan, am Morgen schafft er es zurück in den Central Park. Da alle Versuche, ihn einzufangen, misslingen (auch durch bewusste Störungen), gibt der Zoo ihn frei. Flaco wird ein Teil der urbanen Biodiversität mit ihren Chancen und Risiken.

Die Prognosen stehen schlecht. Kann er überhaupt richtig fliegen, gar jagen? Flaco straft alle Kritiker Lügen. Innerhalb von zwei Wochen verdoppelt er seine Muskelmasse und gleitet elegant durch das Grün des Central Park. Dort lauern ihm seine Fans mit Nachtsichtgeräten auf und bejubeln jede erbeutete Ratte. Flaco wird zum Sympathieträger und Medienereignis. Der Greiftöter lebt nicht nur den Traum jeden New Yorkers, das zu kleine Apartment zu verlassen und der Ratten Herr zu werden, sondern den American Dream, durch eigener Klauen Arbeit selbstbestimmt zu leben. Täglich berichtet der Twitter-Account „Manhattan Bird Alert“. Bis in den Spätsommer 2023 sitzt Flaco im Central Park auf seiner Lieblingseiche und lässt sich bereitwillig bestaunen.

Die lange Suche nach einem Weibchen

Doch im September wird er unruhig und startet Balzrufe: Buho! – Keine Antwort, denn in Freiheit gibt es kein Weibchen für ihn. Nach dem New York Marathon ist Flaco plötzlich verschwunden, kollektives Suchen setzt ein. Am 6. November berichtet die „New York Times“ erleichtert, Flaco sitze nun im feinen East Village in einem Skulpturengarten. Mehr als fünf Meilen ist er geflogen auf der Suche nach einer Frau. Die fünfundneunzigjährige Sexualtherapeutin und New Yorker Ikone Ruth Westheimer schaltet sich ein und twittert am 8. November aporetisch: „I say Flaco and every single person should never give up on finding a mate and it was very wise of this owl to look elsewhere.“ Nun wird der Uhu zum romantischen Helden; nur konsequent, dass er bald den Broadway befliegt. Jede Woche ist er woanders, jagt zwischen Upper East- und West­side, schaut durchs Küchenfenster und verduftet wieder wie Till Eulenspiegel.

An sich ist der Uhu kein Kulturfolger. Wenn er in Europa vereinzelt an städtischen Orten brütet, sind es Heterotope wie Mülldeponien und Friedhöfe. Flaco war anders und zeigt auch der Tierethik kategoriale Grenzen auf. Denn er passt nicht in die Gliederung der Tierrechte nach Nah- und Fernbereichen: vom Haustier über Tiere des Schwellenbereichs wie Eichhörnchen bis hin zum Wildtier. Flaco war der Spezies nach ein Wildtier, aber durch seine Aufzucht und die Zoohaltung stand er zu Menschen in einem Näheverhältnis wie ein Haustier, was die Verpflichtung zur Fütterung und Fürsorge bedeutet. Als er die Voliere verließ, konnte er sich zwar frei bewegen und selbst versorgen, wurde aber damit nicht zum Wildtier. Die Kultürlichkeit und mangelnde Menschenscheu des einstigen Zootieres begeisterten. Er thronte gerne auf Feuerleitern und Wassertürmen, als ob er die architektonische Moderne hätte feiern wollen.

Am 23. Februar wurde Flaco tot an der Glasfront eines Gebäudes gefunden. Zum Verhängnis war ihm laut einer ersten Obduktion nicht, wie zunächst angenommen, der Schein der Oberfläche geworden. Die toxikologische Untersuchung dauert an. Ein paar Tage zuvor hatte er erstmals eine Taube erlegt. Als städtischer Räuber lebte er mit dem Risiko, dass sich Gift und Schwermetalle aus dem Körper der Beute in ihm akkumulieren und die Sinne vernebeln. In ein Naturschutzgebiet verbracht, hätte der Dreizehnjährige doppelt so alt werden können. Ornithologen hatten dafür plädiert im Wissen, dass Freiheit einem Tier wenig nützt, wenn der Lebensraum nicht artgerecht ist. Aber viele New Yorker wollten Flaco als Symboltier bei sich behalten: den anpassungsfähigen Einwanderer, Outlaw, unfreiwillig zölibatär lebenden Incel. Moralisch konnten sie dafür nur die negative Freiheit von seinem Käfig anführen, ihm aber keine positive Freiheit schenken.