Ohne Sitzungen ist keine Organisation denkbar: Das Rattanholz für das Geflecht der Rückenlehnen dieses Stuhls aus Walnussholz wurde von der Londoner East India Company gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts von der Malaiischen Halbinsel nach Europa importiert.

Geschichte der Organisationen :
Die Würde des Amtes zu üben

Von Stefan Kühl
Lesezeit: 8 Min.

Lange ist die soziologische Forschung davon ausgegangen, dass Organisationen ein Phänomen der modernen Gesellschaft sind. Wo im Mittelalter und der Frühen Neuzeit soziale Gebilde wie Zünfte, Korporationen oder Höfe den ganzen Menschen inkludiert hatten, da bildete sich in der sogenannten Sattelzeit von 1750 bis 1850 in so unterschiedlichen Feldern wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft und Erziehung mit Organisationen eine soziale Formation aus, die nicht mehr den ganzen Menschen erfasste, sondern ihn nur noch als Träger einer spezifischen Rolle begriff.

Zur Organisationsbildung großen Stils ist es, so die These von Niklas Luhmann, erst gekommen, als es in der Gesellschaft möglich war, Individuen zu rekrutieren, die „all den Ballast der Herkunft, Gruppenzugehörigkeit und Schichtung“ abgeworfen hatten. Die zumutbaren Arbeitsleistungen richteten sich in der modernen Gesellschaft dabei nicht länger wie im Mittelalter oder der Frühen Neuzeit nach dem sozialen Status, sondern der soziale Status hing im Wesentlichen von der durch Arbeitsleistung beeinflussbaren Rangzuteilung durch Organisationen ab.

In Kontrast zu dieser Fokussierung auf die Übergangszeit zwischen Vormoderne und Moderne setzte eine von Franziska Neumann, Matthias Pohlig und Hannes Ziegler im Historischen Kolleg in München ausgerichtete Tagung die Entstehung von Organisationen deutlich früher an. An so unterschiedlichen Fällen wie dem Wiener Hofstaat, dem kaiserlichen Reichshofrat, den Franckeschen Stiftungen zu Halle oder dem Handelshaus der Fugger wurde aufgezeigt, dass das Phänomen der Organisation sich bereits seit dem späten Mittelalter ausgebildet hat.

Integration der ganzen Person

Auf der Tagung war auffällig, wie stark sich die Historiker der Frühen Neuzeit in der Interpretation ihrer empirischen Fälle an der soziologischen Systemtheorie orientierten. Während gerade unter Zeithistorikern nicht selten ein striktes Abstinenzgebot gegenüber soziologischen Theorien zu herrschen scheint, wird in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur Frühen Neuzeit die soziologische Systemtheorie systematisch zur Analyse der Fälle genutzt. In der geschichtswissenschaftlichen Forschung zur Frühen Neuzeit dienen stark generalisierende soziologische Konzepte dazu, die bisweilen dürftige Quellenlagen zu kompensieren, während in der Zeitgeschichte die umfangreichen Aktenbestände, die Existenz audiovisueller Dokumente und die Möglichkeit von Interviews mit Zeitzeugen eher zu einer Skepsis gegenüber soziologisch informierten Zugängen zu führen scheinen.

Deutlich wurde auf der Tagung, dass die in Europa seit dem Spätmittelalter verbreiteten Korporationen schon Elemente von Organisationen enthielten, aber nach einer anderen Logik funktionierten. Zünfte, Gilden und Knappschaften basierten auf einer Integration der ganzen Person, während auch vormoderne Organisationen Personen lediglich als Träger einer spezifischen Rolle begriffen. In der Detailanalyse muss diese produktive Gegenüberstellung von Korporationen und Organisationen sicherlich differenziert werden. Einerseits konnten Kooperationen nicht problemlos auf alle Aspekte eines Mitglieds zugreifen und konnten dieses bei häufigem Fehlverhalten auch wieder ausschließen. Andererseits lässt sich in Organisationen der Frühen Neuzeit beobachten, dass der Einfluss von Rollen außerhalb der Organisation – zum Beispiel Zugehörigkeit zu einer Familie oder Stadt – auf Mitglieder deutlich stärker war, als wir es heute von den meisten Organisationen kennen.

Die Serie der Stühle in der Sammlung des Metropolitan Museum of Art umfasst sechs Exemplare.
Die Serie der Stühle in der Sammlung des Metropolitan Museum of Art umfasst sechs Exemplare.The Metropolitan Museum of Art

Die Unterschiede der Funktionsweise zwischen Korporationen und Organisation werden besonders dann deutlich, wenn sie miteinander in Kontakt kommen. Im sächsischen Bergbau, der schon im Mittelalter begonnen hatte, stieß, wie Franziska Neumann zeigte, eine sich professionalisierende Bergbauverwaltung auf eine korporativ strukturierte Knappschaft. Während in der sächsischen Bergverwaltung, die in gewisser Weise ein Hybrid zwischen traditioneller Verwaltung und Wirtschaftsunternehmen war, die Ausbildung formaler Mitgliedschaftsbedingungen zu beobachten ist, waren die Knappschaften durch Eid konstituierte Personenverbände, die sich über ausdifferenzierte Formen von Sozialität stabilisierten. Unehrbares Verhalten wie Gotteslästerung, Untreue in der Ehe oder das Verwenden von Schmähworten wurde rituell sanktioniert und konnte zum Ausschluss aus der Korporation führen.

Überleben in Vereinsform

Die Unterscheidung von Korporationen und Organisationen ermöglicht es, die Durchsetzung eines auf freiwilliger Mitgliedschaft basierenden Erfolgs von Organisationen zu erklären. Der Typus einer modernen Organisation, die über explizierte Mitgliedschaftsbedingungen und die Drohung mit Ausschluss Konformität herstellt, scheint sich dabei eher selten aus den Korporationen heraus entwickelt zu haben, sondern ist eher in Konkurrenz zu diesen entstanden. Zünfte, Gilden und Knappschaften sind nicht komplett verschwunden, haben in den meisten Fällen aber nur in Form von an Traditionspflege orientierten Vereinen überlebt, die gesellschaftlich keine zen­trale Bedeutung mehr haben.

Der Prototyp, an dem sowohl Soziologen als auch Historiker die „Organisationshaftigkeit“ von sozialen Gebilden prüfen, sind Zusammenschlüsse von Personen. In der Organisationsforschung sind jedoch in den letzten Jahren Organisationen in den Fokus genommen worden, deren Mitglieder nicht Personen, sondern Organisationen sind. Beispiele für solche sogenannten Metaorganisationen sind die Europäische Union, die FIFA (Fédération Internationale de Football Association), der Deutsche Sparkassen- und Giroverband oder der Bundeskongress entwicklungspolitischer Ak­tions­gruppen. Diese Organisationen haben zwar auch in der Zentrale Personen als bezahlte Mitglieder, aber ihre Entscheidungen sind nur als Ergebnis der Aushandlung zwischen ihren organisationalen Mitgliedern zu verstehen. Es ist eine interessante Frage der Forschung über das Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit, ob der Organisationsbildungsmechanismus nicht zu einem erheblichen Maße an Zusammenschlüssen von Kaufmannsfamilien, Gilden und Städten erprobt wurde.

Über die Kooperation von norddeutschen Städten im Rahmen der Hanse sprach Ulla Kypta. Handelte es sich bei diesem Zusammenschluss lediglich um eine Aneinanderreihung von Interaktionen auf den sogenannten Hansetagen oder um eine Metaorganisation, die ihre Mitglieder mit einem formalen Regelwerk binden konnte? Auffällig sind an der Hanse jedenfalls die auch für die Moderne nachgewiesenen Schwächen von Metaorganisationen – die Schwierigkeit, formale Beschlüsse gegenüber ihren organisationalen Mitgliedern durchzusetzen, die Schwäche der Zentrale gegenüber einzelnen mächtigen Mitgliedern und ein auffälliges Maß an Wandlungsresistenz.

Erste Erfahrungen mit Formalität

Für die Forschung zur Frühen Neuzeit eröffnet das Konzept der Metaorganisationen neue Perspektiven. Unter welchen Bedingungen verfestigten sich in der Vormoderne regelmäßig stattfindende Interaktionen zu Metaorganisationen? Welchen Unterschied machte es, ob Fürstentümer, Städte oder Gilden Mitglieder von Metaorganisationen wurden? Können politische Verbünde wie der Rheinische Städtebund, die Schweizer Eidgenossenschaft oder gar das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als Metaorganisationen begriffen werden? Wie wirkte sich die Veränderung in der Mitgliedschaft – zum Beispiel die Festschreibung der Mitgliedschaft in den hansischen Konföderationen – auf die Entscheidungsfindung aus? Wie stellten sich die Machtverhältnisse zwischen den personalen Mitgliedern in der Zentrale zu den organisationalen Mitgliedern dar? Und nicht zuletzt: Wurden erste Erfahrungen mit Formalität eher in Organisationen mit Personen als Mitgliedern oder vielleicht sogar in Organisationen mit Organisationen als Mitgliedern gemacht?

Die Polster sind modern.
Die Polster sind modern.The Metropolitan Museum of Art

An Beispielen der fürstlichen Hofverwaltung, des hansischen Städteverbundes oder der britischen East India Company wurde gezeigt, dass nicht nur Korporationen wie Bruderschaften, Zünfte und Universitäten, sondern auch Organisationen stark auf kollegialen Entscheidungsstrukturen basierten. Anders, als es Vorstellungen vom absoluten Fürstenstaat nahelegen, scheinen in frühen Organisationsformen Entscheidungen vielfach nicht von Einzelpersonen, sondern von mehreren Entscheidungsträgern gemeinsam getroffen worden zu sein.

Für die Formen der kollektiven Entscheidungsfindung bildeten sich ausdifferenzierte Verfahren aus, die das Zusammenwirken bei der Entscheidungsfindung berechenbarer machen sollten. Idealtypisch ist dies für die Nachfolgeregelung im Reich von Barbara Stollberg-Rilinger gezeigt worden. Statt sich mit dem Erstgeburtsrecht eines „quasi-natürlichen Automatismus“ zu bedienen, eta­blierte man mit der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV. von 1356 ein aufwendiges formales Verfahren zur Bestimmung eines neuen Kaisers. Die Einführung eines auf Mehrheitswahlrecht basierenden Verfahrens stellte sicher, dass eine Entscheidung durch die sieben mit der „Kur“ betrauten Bischöfe und Fürsten auch bei offenem Dissens möglich war.

Entscheidungsfindung über Einzelpersonen

Paradoxerweise scheinen sich erst im Übergang zu einer durch Demokratisierung gekennzeichneten modernen Gesellschaft Formen der Entscheidungsfindung über Einzelpersonen breit durchzusetzen. Zwar hielten sich in Gerichten, Universitäten und Vereinen Formen kollektiver Entscheidungsfindung, aber gerade in Unternehmen, Verwaltungen und Krankenhäusern setzte sich das Prinzip des Treffens von Entscheidungen durch einzelne Personen durch. Dieses Entscheiden durch einzelne Personen im Rahmen hierarchischer Organisationen ermöglichte es gerade in demokratischen Staaten, die Verantwortlichkeit für Entscheidungen genau zuzurechnen.

Im Mittelpunkt der Tagung stand die Frage, wie die Entstehung von Organisationen mit Veränderungen der gesellschaftlichen Formation zusammenhängt. Der zentrale Unterschied zwischen Vormoderne und Moderne ist der Übergang von einer gestaffelten Schichtungsgesellschaft zu einer nach Funktionssystemen differenzierten Gesellschaft. Die Forschung nimmt an, dass die Ausbildung von Organisationen parallel zur Ausdifferenzierung dieser gesellschaftlichen Funktionssysteme verlief. Bereits frühe soziologische Studien haben gezeigt, dass die Bedeutung von einzelnen gesellschaftlichen Feldern maßgeblich auf der Ausbildung von Organisationen basiert. Karl Marx hat herausgearbeitet, dass die Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaft von der Ausbildung profitorientierter Unternehmen abhängig war. Max Weber hat aufgezeigt, dass die Ausdifferenzierung einer politischen Wertsphäre erheblich von der Entstehung einer an Rationalitätskriterien orientierten Bürokratie abhing. Niklas Luhmann hat dieses Argument verallgemeinert.

Das dritte Heft des sechzehnten Jahrgangs der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ behandelte im Herbst 2022 „Die Sitzung“, mit Beiträgen von Ina Hartwig, Adrian Daub, Christoph Schönberger und Jürgen Kaube.
Das dritte Heft des sechzehnten Jahrgangs der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ behandelte im Herbst 2022 „Die Sitzung“, mit Beiträgen von Ina Hartwig, Adrian Daub, Christoph Schönberger und Jürgen Kaube.The Metropolitan Museum of Art

Dabei lag, so jedenfalls die systemtheoretische Auffassung, ein gegenseitiges Steigerungsverhältnis der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und der Ausbildung von Organisationen vor. Die weltweite Durchsetzung von Organisationen hing maßgeblich von der Ausbildung freier Arbeitsmärkte in der Wirtschaft und eines von der Religion unabhängigen Erziehungswesens ab. Gleichzeitig war aber auch die Ausbildung von Organisationen ein zentraler Stützungsmechanismus für die funktionale Differenzierung, weil nur über sie die Erwartungsstrukturen der einzelnen Funktionssysteme operationalisiert werden konnten. Eine kapitalistische Wirtschaft konnte nicht allein über eine rein marktförmige Koordination von Arbeitskräften funktionieren, sondern bedurfte der Ausbildung von Unternehmen, in denen diese Arbeitskräfte zusammengefasst wurden. Das Erziehungswesen konnte sich nicht auf die Unterrichtung der Kinder in den Haushalten verlassen, sondern bedurfte der Entstehung von Schulen.

Der überzeugende Versuch der Tagung, frühe Formen der Organisationsbildung nachzuweisen, stellt diese Überlegungen zur sich gegenseitig bedingenden Ausbildung der funktionalen Differenzierung und der Entstehung von Organisationen nicht infrage. Wenn man sich die Fälle der Organisationsbildung in der Frühen Neuzeit anschaut, stellt sich die Frage, inwiefern diese mit frühen Formen einer funktionalen Differenzierung einhergingen. Wie korrelierte die Ausbildung früher Organisationsformen in Gestalt des Reichskammergerichts oder des Reichshofrates mit einer frühen Ausdifferenzierung des Rechts gegenüber der Politik? In welcher Form war die Ausbildung von Universitäten eine notwendige Voraussetzung für einen Autonomiegewinn der Wissenschaft gegenüber der Religion, und inwiefern verstärkte die Ausbildung einer autonomen Wissenschaft den Prozess der Organisationsbildung von Universitäten?

Es spricht viel dafür, dass sich einige Funktionssysteme deutlich früher ausdifferenziert haben als andere. Wenn die Ausbildung eines autonomen, emanzipierenden Rechtssystems schon im Mittelalter begann und ein Treiber funktionaler Differenzierung gewesen ist, dann wäre dies eine Erklärung dafür, dass sich Gerichte wie der Reichshofrat, das Reichskammergericht oder die Circuit Courts in England als frühe Formen der Organisationen ausgebildet haben. Während in der soziologischen Systemtheorie eher mit einem groben Strich gearbeitet wird, lädt der stark auf Fallstudien basierende Zugang der Historiker dazu ein, in Mikroanalysen das Wechselverhältnis von ersten Ansätzen funktionaler Ausdifferenzierung in der Ständegesellschaft und der Ausbildung von Organisationen zu bestimmen.