Soziale Systeme :
Wir vertrauen nur Verwandten

Von André Kieserling
Lesezeit: 3 Min.
Familienbande: Der Berliner Clanchef Arafat Abu-Chaker im September 2020
Mit einem Experiment geht ein Sozialforscher der Frage nach, warum enge Familienbande den Argwohn gegen Fremde steigern.

Thomas Hobbes hatte den vorsozialen Urzustand als einen Kampf aller gegen alle vorgestellt. Aus der Unerfreulichkeit dieser Lage sollte die Bereitschaft folgen, sich politischer Herrschaft zu beugen. Aber läge es in solchen Situationen nicht näher, dass der isolierte Kämpfer sich zunächst nach Verbündeten umsieht? Hobbes hält fest, dass auch der schwächste Mensch den stärksten erschlagen kann, weil auch dieser irgendwann schlafen muss.

Wie aber, wenn auch nur zwei Menschen sich zusammentun, damit der eine den Schlaf des anderen bewache? Den physischen Kampf hätten dann nicht Individuen auszutragen, sondern soziale Gruppen, die ihn dazu in sich selbst unterbinden müssen. Und entsprechend wäre das Misstrauen in den Mitmenschen keine universell sinnvolle Einstellung mehr, sondern könnte auf die jeweils Gruppenfremden begrenzt werden.

Der Fall Chiaramonte

Diese Auffassung ist nicht nur theoretisch plausibler, es gibt auch eine berühmte soziologische Untersuchung, die sie zu bestätigen scheint – und zwar nicht an irgendeinem Südseevolk, sondern einem Ort in Süditalien, Chiaromonte. Dort fand der amerikanische Politikwissenschaftler Edward C. Banfield noch 1955 einen Extremfall von Gruppenegoismus vor. Die übliche Alltagsmoral galt nur für die Mitglieder der je eigenen Familie, zu allen anderen pflegte man eine strategische Einstellung. Also zog, wer nicht dazugehörte, unbelehrbares Misstrauen und sozial erlaubten Betrug auf sich. Größere, komplexer organisierte Gruppen von höherer Leistungsfähigkeit konnten unter diesen Umständen nicht gebildet werden.

Auch anderswo haben Studien gezeigt, dass es Leuten mit starker Familienloyalität nicht leichtfällt, Vertrauen in Fremde aufzubringen. Forscher sehen darin ein Entwicklungshindernis. Die ökonomischen Chancen großer Märkte können nur genutzt werden, wo man sich auch Nichtverwandte als mögliche Geschäftspartner vorstellen kann. Und wenn aus mehreren isolierten Stämmen eine Nation werden soll, darf das politische Vertrauen nicht auf Blutsverwandtschaft beruhen. Die dafür erforderliche Risikobereitschaft gegenüber Fremden findet sich aber eher bei Menschen aus nur locker integrierten Familien.

Wer braucht Freunde, wenn er die Familie hat?

Zwei Hypothesen gibt es, die nebeneinander erklären sollen, wie die geschlossene Familie es den eigenen Mitgliedern erschwert, persönliches Vertrauen zu lernen. Erstens unterstütze sie ihre Mitglieder so breit und in so verschiedenartigen Hinsichten, dass diese nur selten in die Lage kommen, sich an fremde, aber möglicherweise trotzdem vertrauenswürdige Personen zu wenden.

Und zweitens komme es, sollte dies doch einmal erforderlich werden, auf den Fremden als konkrete Person gar nicht an. Alle positiven Erfahrungen mit ihm werden seiner ehrbaren Familie zugerechnet, die ihn unter Kontrolle hat, und nicht etwa seinen individuellen Eigenschaften, die ebendeshalb auch nicht erst geprüft werden müssen. In einer sozialen Welt, die aus lauter Familien besteht, sind auch nur die Familien vertrauenswürdig. Entsprechend verdient Misstrauen, wer einer verfeindeten Familie, einer fernen und unbekannten Nation entstammt.

Auf der Ebene statistischer Korrelationen ist der Zusammenhang von starker Familienbindung und geringer Vertrauensbereitschaft in Fremde gesichert. Aber die Kausalität könnte ja auch andersherum laufen: Personen von großer Vertrauensbereitschaft und breitem Kontaktnetz suchen sich erst gar keine Familie, die sie mit Haut und Haaren beansprucht; oder sie entfliehen ihr, sobald es geht.

Um diese zweite Deutung auszuschließen, hat ein Team um den italienischen Soziologen Diego Gambetta nun ein interessantes Experiment durchgeführt. In zwei verschiedenartigen Spielsituationen wurde getestet, ob die nur locker an ihre Familie gebundenen Versuchspersonen eher bereit sind, riskantes Vertrauen in mögliche Gegner aufzubringen, als diejenigen mit fester Familienbindung. Die erste Situation war dabei so manipuliert, dass das Vertrauen der Versuchspersonen in ihre fremden Mitspieler sich auszahlte. Wie vorhergesagt, waren die familiär nur lose Gebundenen zu dieser Art von sich bewährendem Vertrauen deutlich eher bereit als die fest Gebundenen, die sich Chancen entgehen ließen.

Um nun aber auszuschließen, dass dies an ihrer starken persönlichen Vertrauensbereitschaft lag, war die zweite Spielsituation genau umgekehrt präpariert worden. Alle Vertrauenden machten hier vorwiegend negative Erfahrungen. Bei einer starken Neigung zu unkritischem Vertrauen hätten die schwach Gebundenen auch hier mehr Vertrauen zeigen müssen als die stark Gebundenen. Aber das taten sie keineswegs.