Vittore Colorni und Israel :
Das Gesetz des Landes ist Gesetz

Von Giuseppe Veltri
Lesezeit: 4 Min.
Anders als in den Vereinigten Staaten von Amerika folgte der Unabhängigkeitserklärung in Israel bis heute noch keine Verfassung: Die Urkunde der Ausrufung des jüdischen Staates wurde am 14. Mai 1948 im städtischen Museum von Tel Aviv unterzeichnet; David Ben Gurion (links) wurde der erste Ministerpräsident.
Der italienische Rechtshistoriker Vittore Colorni steuerte zur israelischen Verfassungsdebatte 1948 den Gedanken bei, dass das Recht auf dem Minderheitenschutz basiere. Er berief sich dabei auf die Tradition des jüdischen Rechtsdenkens.

In der ersten Ausgabe der „Official Gazette“, des damaligen israelischen Gesetzblattes, vom 14. Mai 1948 veröffentlichte die Provisorische Regierung die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel. Bis Oktober 1948 sollte außerdem eine Verfassung ausgearbeitet werden. Eine Verfassunggebende Versammlung, wie in der Resolution 181 der UN-Generalversammlung vom 29. November 1947 vorgesehen, wurde dann am 25. Januar 1949 gewählt. Der Jurist Leo Kohn (1894 bis 1961) wurde auf Ersuchen der Leitung der Jewish Agency, wo Kohn Sekretär in der politischen Abteilung war, mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs beauftragt. Kohn, aus Frankfurt gebürtig, hatte 1927 seine juristische Dissertation an der Universität Heidelberg eingereicht, die sich mit der Verfassung des Irischen Freistaates befasste.

Wie viele Juden war auch der italienische Rechtshistoriker Vittore Colorni (1912 bis 2005) voller Enthusiasmus angesichts der Entwicklungen in dem nach der Shoah gegründeten Staat Israel. Nachdem Carlo Alberto Viterbo in der Wochenzeitung „Israel“ eine Zusammenfassung des von Leo Kohn ausgearbeiteten Verfassungsentwurfs publiziert hatte, verfasste Colorni auf der Basis dieser Zusammenfassung selbst einen Aufsatz, der noch 1948 in der vom Verband der Jüdischen Gemeinden Italiens herausgegebenen Zeitschrift „Rassegna Mensile di Israel“ erschien.

Grundlage der politischen Gemeinschaft

Anerkennend stellte Colorni fest, dass Kohn eine „bloße emphatische Verkündung abstrakter und rein theoretischer Programme“ vermeide. Vielmehr stelle er die Verfassung als „wirksame Grundlage der politischen Gemeinschaft, als lebendige Quelle aller öffentlichen Gewalten und privater Rechte“ dar. Colorni bezog sich auf die legislativen, exekutiven und judikativen Befugnisse sowie die individuellen Grundrechte. Letztere bilden für ihn die „rechtliche Grenze für die gesetzgebende Gewalt, welche ihrerseits die Organe der Exekutive und Judikative bindet“.

Schon Leopold Zunz, der Begründer der Wissenschaft des Judentums, hatte ein Jahrhundert die Forderung artikuliert, dass den Juden in Europa endlich „Recht und Freiheit“ statt „Rechten und Freiheiten“ zuteilwerden müssten. Zunz indirekt aufgreifend wies auch Colorni darauf hin, dass die Rechte von Individuen und Minderheiten in geschriebenen Gesetzen und nicht in bloß moralisch verbindlichen Richtlinien (den „Freiheiten“ nach Zunz) verankert sein müssten. Denn eine rein moralische Festlegung könne durch die gesetzgebende Gewalt jederzeit aufgehoben werden.

Der gesetzgebenden Gewalt Grenzen zu setzen zielt laut Colorni auf den Schutz des Einzelnen und letztlich aller Minderheiten: ein Schutz davor, dass „das Gesetz, das in seinem Inhalt den nicht immer unparteiischen Willen der Mehrheit zum Ausdruck bringt, ungerecht gegen sie vorgeht“. Im Gegensatz zur Staatsauffassung der Antike, nach welcher der Souverän über allumfassende Befugnisse verfügt, werde in der Neuzeit der Schutz der Minderheiten durch eine Reihe von das Gesetz begrenzenden Grundrechten wie Gewissens-, Glaubens-, Presse- und Meinungsfreiheit sichergestellt. Die gedanklichen Grundlagen dieser Beschränkungen der souveränen Macht habe die Schule von Bologna im zwölften Jahrhundert gelegt und die Aufklärung ausgebaut.

Steuergerechtigkeit nach dem Talmud

Für Colorni bot die Halacha, die jüdische Rechtswelt, wichtige, bis dahin unbeachtete Perspektiven, die der verfassungsgebenden Versammlung Israels bei der Regelung des Minderheitenrechts helfen sollten: Der berühmte Grundsatz „dina demalkhuta dina“ („Das Gesetz des Landes ist [gültiges] Gesetz“) aus dem Babylonischen Talmud, Baba Qamma 113a, bedeutet für Colorni nichts anderes, als dass ein Gesetz allgemeingültig sein müsse und nicht willkürlich sein dürfe. Steuern etwa dürften nicht nur von einer bestimmten Gruppe erhoben werden, ansonsten wären diese Steuererhebungen Raub.

Es liege auf der Hand, so fuhr Colorni fort, dass der neue Staat Israel zwar den Bedürfnissen der neuen Zeit zu entsprechen habe. Er müsse jedoch auch die Kontinuität der Tradition wahren. Interessanterweise war Colorni, der kein orthodoxer Jude war, der Hinweis wichtig, dass das, was zumindest jüdische Intellektuelle vom neuen Staat Israel erwarten, in Übereinstimmung mit der politischen und rechtlichen Tradition des Judentums stehen müsse. Diese Tradition sei wesentlich in der Diaspora entstanden, als das jüdische Volk nicht selten eine gehasste und rechtlose Minderheit war.

Bekanntermaßen wurde im jungen Staat Israel keine Einigung über die Verfassung erzielt. Vielmehr wurde im Laufe der Zeit eine Reihe von „Basic Laws“ eingeführt, die einen verfassungsähnlichen Rang haben. Das Grundgesetz zu Menschenwürde und Freiheit (eingeführt am 17. März 1992), das auf der Unabhängigkeitserklärung beruht, drückt genau den von Colorni immer wieder geäußerten Wunsch aus, die Gesetze auf Würde und Freiheit der Minderheiten zu gründen. In der Präambel: „Der Zweck dieses Gesetzes ist es, die Würde und die Freiheit des Menschen zu schützen, um in einem grundlegenden Gesetz die Werte des Staates Israel als jüdischer und demokratischer Staat zu verankern.“ Schon in der Unabhängigkeitserklärung steht, dass der Staat „allen seinen Einwohnern ohne Unterschied der Religion, der ethnischen Zugehörigkeit oder des Geschlechts die völlige Gleichheit der sozialen und politischen Rechte gewährleisten wird“.

Israel ist ein jüdischer Staat und eine Demokratie, zwei Grundelemente, die mitunter in Konflikt geraten können. Der 2011 verstorbene Verfassungsjurist Ze’ev Segal schrieb 2010, dass die arabische Minderheit in Israel zwar formal nicht als nationale Minderheit anerkannt werde, „aber verschiedene Regelungen durch spezielle Gesetze und durch Urteile des Obersten Gerichtshofs de facto die kollektiven Rechte der Minderheit anerkennen und damit faktisch die Anerkennung der arabischen Minderheit als nationale Minderheit vollzogen wird“. Die jüngsten Entwicklungen in Israel mögen einen Fortgang des Gleichberechtigungsprozesses in weite Ferne rücken lassen. In einem demokratischen Staat dürfen jedoch die Rechte einer Minderheit, wie Segal betonte, nur bei unmittelbarer Gefahr ausgesetzt werden. Für Segal blieb der Kampf für Demokratie, der die Menschenrechte aufrechterhält, „ein nie endender Kampf“. Eine Schwächung der Position des Obersten Gerichtshofs wäre ein empfindlicher Rückschlag in diesem Kampf.