Die Ur-Dichterliebe :
Das weiß ich längst

Von Felix Diergarten
Lesezeit: 3 Min.
Und
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die
Blumen: Martha Argerich und Thomas Hampson am Ende ihres Konzerts in Luzern
Musikforschung arbeitet mit Musikpraxis im Ohr: Thomas Hampsons Luzerner Vortrag des Schumann-Lieds „Ich grolle nicht“ bricht Hörgewohnheiten auf.

Thomas Hampson und Martha Argerich führten am 11. Februar 2023 in Luzern beim neuen Festival Le piano symphonique Robert Schumanns „Dichterliebe“ auf. Wenn eine Pianistin dieses Rangs einen Sänger begleitet, der nicht nur zu den profiliertesten Liedinterpreten der Welt gehört, sondern sich auch als Forscher, Mäzen und Vermittler um das Liedrepertoire verdient gemacht hat, steht Besonderes zu erwarten. Tatsächlich trat Hampson zunächst als Redner vor das Publikum und warb für seine Ur-Dichterliebe, die er seit Jahren verficht und für die er schon 2018 auch Martha Argerich gewinnen konnte.

Schumanns Manuskript unterscheidet sich vielfach vom Erstdruck, die Umstände sind unklar. So gab es in der Handschrift vier zusätzliche Lieder, die im Erstdruck fehlen. Umgekehrt ist die im Manuskript schlicht deklamierende Gesangsstimme im Erstdruck um manchen Schluchzer und Seufzer erweitert, insbesondere tritt erst im Druck, als kleingedruckte Alternative, die wohl berühmteste Note des Zyklus hinzu, das hohe A in der Zugnummer „Ich grolle nicht“, herausgeschmettert bei „Ich sah’ die Schlang’, die Dir am Herzen frisst“. Hampson versagte dem Publikum diesen Ton. Unabhängig davon, welche Fassung man bevorzugt (Hampson betrachtet sie als zwei unabhängige und gleichberechtigte Varianten), wird an dieser einen Note etwas Allgemeines greifbar: das Wechselverhältnis von Musikwissenschaft und musikalischer Praxis.

Dass Wissenschaft die Praxis beeinflusst, liegt auf der Hand: Sie publiziert Editionen, stellt Traktate zur Verfügung, analysiert Werke und wirkt damit auf die Interpreten. In der Gegenrichtung geschieht die Beeinflussung meist unterschwellig und unbewusst, dafür umso wirksamer. Viele Äußerungen über Partituren sind eigentlich Aussagen über Aufführungen – so hat der Musikwissenschaftler Daniel Leech-Wilkinson das einmal formuliert. Aufführungsweisen, mit denen wir aufgewachsen sind, fixieren unsere Klangvorstellung von Notentexten, die viel weniger determiniert sind. Man höre Schumanns „Ich grolle nicht“ einmal in einer Aufnahme des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Das Tempo bei Therese Behr-Schnabel etwa, Ehefrau des Pianisten Arthur Schnabel, ist halb so schnell wie bei Fritz Wunderlich, schwankt zudem in jedem Takt in einer atemberaubenden Amplitude, das hohe A fehlt. Bei Behr-Schnabel grollt die Musik nicht, sie spricht von tiefer Traurigkeit.

Ironie am Werk

Erst in den Sechzigerjahren wandelte sich die Auffassung des Liedes: schnelleres Tempo, gehämmerte Akkorde, wilder Ausbruch, grimmiges hohes A. Die Interpreten (allen voran Dietrich Fischer-Dieskau) ließen das Publikum in Begleittexten wissen, was sie damit wollten: Schumann und Heine gleichermaßen vom Sentimentalitätsvorwurf befreien. Die künstlerische Botschaft lautete: Hier ist Ironie am Werk, der Text sagt „ich grolle nicht“, aber das Gegenteil wird musikalisch ausgedrückt, die Musik grollt, Schumann ist als Heine-Interpret auf der Höhe der Zeit. Das griffen die Schumann-Forscher, die mit diesen Aufnahmen aufwuchsen, seit den Achtzigerjahren dankbar auf. Kaum ein wissenschaftlicher Kommentar zur „Dichterliebe“, der heute nicht auf die grollende Musik von „Ich grolle nicht“ hinweist, um Schumanns Ironiefähigkeit unter Beweis zu stellen. Nur ist das eben keine Eigenschaft einer Partitur, die sehr unterschiedlich realisiert werden kann, sondern die Eigenschaft einer Aufführungstradition der Nachkriegszeit. Hier beeinflusst die Praxis unbewusst die Forschung, und beide geraten in einen Teufelskreis: Die Forscher beschreiben, was die Interpreten ihnen vorgesungen haben, die späteren Interpreten singen dann, was ihnen die Forschung als Eigenschaft der Partitur vorgaukelt.

Die Aufführung von Argerich und Hampson erinnerte daran, dass die Korrektur des Schumann-Bildes das Kind mit dem Bade ausgeschüttet hat. Wenn bei „ich grolle nicht“ so eindeutig gegrollt und gebrüllt wird, ist das keine Ironie mehr, sondern Zynismus. Romantische Ironie dagegen entzieht sich der Eindeutigkeit, Schumanns Lied grollt und grollt nicht. So zeigt sich bei einem Künstler-Forscher wie Hampson, wie das Wechselverhältnis von Wissenschaft und Praxis produktiv zu machen wäre: Die Forschung kritisiert aufführungspraktische Traditionen, während umgekehrt neue oder wiedergefundene künstlerische Praktiken eingefahrene Auslegungstraditionen der Wissenschaft infrage stellen.