Enttäuschungen in Rom :
Wappnet euch mit Gleichmut

Von Uwe Walter
Lesezeit: 8 Min.
Der Weltbürgerkriegsverlierer hat dennoch das Schwert erhalten: Josef Abel (1764 bis 1818) zeichnete den jüngeren Cato 1806.
Häufige Wahlen normalisieren Niederlagen: Wie die Elite der römischen Republik mit Enttäuschungen umging.

Mit Niklas Luhmann lassen sich Enttäuschungen als Diskrepanzen zwischen Erwartetem und Ergebnis bestimmen, sofern letzteres einen Schaden mit sich bringt. Nach den Arten des Umgangs unterscheidet der Soziologe drei Kategorien: solche Diskrepanzen, die dazu führen, die Situation zu durchdenken und ihre möglicherweise fehlerhafte Deutung zum Thema zu machen, zweitens solche, die mit negativen Emotionen verbunden sind und zu einem Ende kooperativen Verhaltens führen, und drittens solche, die, sofern man nicht bereit ist, eigene Erwartungen anzupassen, in offenen oder gar gewaltsam ausgetragenen Konflikt münden können.

Die erste Variante verweist auf den meist wenig beachteten, eigentlich positiven Wortsinn von Enttäuschung, nämlich das Ende einer Täuschung oder Selbsttäuschung, also Klärung und Befreiung, die einen Lernprozess auslösen und zu einer Neuorientierung führen – ein aufgeklärter Umgang mit dem Erfahrenen. Die zweite Option führt auf das zuletzt stark beackerte Feld der Gefühlsgeschichte, wobei die potentiell zerstörerische Wirkung von negativen Emotionen wie dem Zorn bereits in der antiken Philosophie vielfach erörtert wurde. In der dritten Reaktion stehen die aus einer Enttäuschung erwachsenen Gefahren für ein Gemeinwesen im Vordergrund. Zugleich stellen die beiden zuletzt genannten Optionen insofern nicht aufgeklärte Reaktionen dar, als keine Selbstkorrektur stattfindet. Kooperatives Verhalten zu beenden liegt nahe, wenn die Verhältnisse insgesamt nicht zu ändern sind und lediglich auf einer Mikroebene reagiert werden kann. Ein auf die Spitze getriebener Konflikt wird real, wenn zumindest aus der Sicht des Ego die Möglichkeit besteht, ihn zu gewinnen und die Regeln zu ändern.

Etwas phantasievoller jammern

Enttäuschungen haben ferner einen Zeitindex und müssen phasiert werden. Wäre es anders, müsste praktisch jeder Ausschlag momentaner und maximaler, sich auch vegetativ äußernder Enttäuschung eine folgenreiche Umsetzung in reaktive Handlungen nach sich ziehen. Verstreichende Zeit hingegen bringt verschiedene Optionen mit sich: zu jammern, Trost zu suchen, die Sache ruhig zu durchdenken, gegebenenfalls die Ursachen zu ermitteln, die eigenen Möglichkeiten zu wägen, Rat einzuholen, die Strategie zu ändern, Vergeltung aufzuschieben oder zu planen – oder die Sache schlicht abzuhaken.

Die politische Ordnung der römischen Republik produzierte für ihr Führungspersonal Enttäuschungen in Hülle und Fülle. Jedes Jahr wurden alle regulären Ämter in Wahlen neu vergeben. Dabei gab es regelmäßig mehr Kandidaten als Plätze. Wie gingen die brennend ehrgeizigen, nach rechts und links auf ihre meist ungefähr gleichaltrigen Mitbewerber schauenden Wahlkämpfer damit um, geschlagen zu werden, noch dazu, wenn als unfair geltende Mittel eingesetzt wurden? Warum kündigte (vor Caesar) nur ein einziger Catilina den Regelkonsens auf und suchte sein Heil im Umsturz?

Tatsächlich wurde in der römischen Elite das Aushalten von Enttäuschungen sowohl erwartet als auch ermöglicht, und zwar stärker als in vergleichbaren politischen Systemen mit Konkurrenzkonstellationen und aristokrati­scher Handlungsmacht. Ja, eine be­sondere „Contenance“, um mit Max Weber zu reden, sowie ein risikobereites Verhalten gehörten geradezu zur DNA der politischen Klasse in Rom. Auffällig ist die hohe Bereitschaft römischer Aristokraten, sich in Gefahr zu begeben, Wagnisse einzugehen und immer wieder Situationen entstehen zu lassen, die weitgehend unberechenbar sein mussten.

Das Selbstopfer erspart dem Helden die Enttäuschung: Die Gefühle, die Decius Mus sich der Überlieferung zufolge im rettenden Dienst für die Stadt versagte, scheint Rubens in die Gesichter der Liktoren gelegt zu haben, die der Konsul vor der Zeit aus dem Dienst entließ.
Das Selbstopfer erspart dem Helden die Enttäuschung: Die Gefühle, die Decius Mus sich der Überlieferung zufolge im rettenden Dienst für die Stadt versagte, scheint Rubens in die Gesichter der Liktoren gelegt zu haben, die der Konsul vor der Zeit aus dem Dienst entließ.Liechtenstein Museum

Eine solche Disposition konnte nicht sehr enttäuschungsaffin sein, sonst hätten die hohen Herren viel öfter im Fall eines Misserfolgs kognitiv ihre Ziele und Präferenzen überprüfen, emotional ihr weiteres Mitspielen aufkündigen oder sogar handgreiflich zum Umsturz schreiten müssen. Dass dies unter anderen Bedingungen aristokratischer Politik durchaus möglich war, zeigen die endemischen, nicht selten bis zum Bürgerkrieg reichenden Spaltungen (Staseis) in griechischen Städten von der Archaik bis in den Hellenismus. Welche Mechanismen, Dispositionen und Routinen sorgten dafür, dass Enttäuschungen in Rom entweder gar nicht aufkamen oder in ihren Folgen begrenzt wurden?

Wer durchfiel, wurde auch Senator

Zunächst muss nach der Perspektive gefragt werden: Ist das Glas halb leer oder halb voll? So war die Quästur als Einstiegsamt in die politische Karriere mit zehn, am Ende gar zwanzig Plätzen pro Jahr auch für ehrgeizigen Nachwuchs ohne eine eindrucksvolle Reihe erfolgreicher Vorfahren erreichbar. Selbst wer über diese Stufe nicht hinauskam, wurde dennoch in den meisten Fällen anschließend Senator und übertraf damit nahezu alle anderen Mitbürger an Prestige erheblich. Die Konstruktion war genial: Die Quästoren mit ihren zumal in den Provinzen vielfältigen und verantwortungsvollen Aufgaben konnten und mussten nicht selten schon im ersten Amt, mit Ende zwanzig, zeigen, was in ihnen steckte und ob sie sich für höhere Aufgaben empfahlen. Wer durchfiel, machte dann möglicherweise keine weitere Karriere, aber er spielte als Senator formal in der gleichen Liga wie die aufsteigenden Konkurrenten und die etablierten Wortführer im Hohen Haus. Mit dem in der Regel gesicherten Senatssitz für Quästo­rier und dann auch für ehemalige Volkstribune liegt ein Fall von Enttäuschungsreduktion durch Erwartungssicherung vor.

Enttäuschungen ließen sich ferner aushalten, indem man Erwartungen vertagte. Stagnierte die Laufbahn, konnte der weitere Aufstieg auf die nächste Generation übertragen werden, insbesondere in den etablierten Häusern, andererseits jedoch auch bei den Aufsteigern aus dem Ritterstand, für die das jeweils erreichte Amt bereits einen großen Erfolg darstellte. Für die meisten Prätoren dürfte es keine Enttäuschung bedeutet haben, wenn sie nicht auch gleich selbst das begehrte Konsulat erreichten, das bei zwei Stellen blieb, während die Kollegien der dorthin führenden Ämter im Laufe der Zeit größer wurden. Eine solche Vertagung war schon deshalb unauffällig, weil immer auch ein früher Tod dazwischenkommen konnte: Hoffnungsträger starben bisweilen in ihren Zwanzigern. Dass lange Zeit in der Elite mehr Kinder geboren und aufgezogen wurden als im Durchschnitt der Gesamtbürgerschaft, dass ferner Adoptionen nicht selten waren, war Teil einer familialen Strategie, die mit solchen Rückschlägen (und auch einzelnen Untauglichen oder Unwilligen) rechnete.

Über die Ohnmacht des allmächtigen Diktators Caesar schrieb Christian Meier ein ganzes Buch. Die Zigarette als zugkräftiges Trostmittel stand enttäuschten Berufspolitikern im alten Rom noch nicht zur Verfügung; Caesar hätte wahrscheinlich eine milde Sorte bevorzugt. Die Tabakfirma Allen & Ginter in Richmond, Virginia, nahm ihn 1888 in ihre Sammelbilderserie großer Generäle auf.
Über die Ohnmacht des allmächtigen Diktators Caesar schrieb Christian Meier ein ganzes Buch. Die Zigarette als zugkräftiges Trostmittel stand enttäuschten Berufspolitikern im alten Rom noch nicht zur Verfügung; Caesar hätte wahrscheinlich eine milde Sorte bevorzugt. Die Tabakfirma Allen & Ginter in Richmond, Virginia, nahm ihn 1888 in ihre Sammelbilderserie großer Generäle auf.The Metropolitan Museum of Art

Enttäuschungsdämpfend dürfte auch ein anderer Umstand gewirkt haben: Zwar konnte das eigene Nichtvorankommen in der Karriere situativ gut mit üblen Machenschaften von Konkurrenten erklärt, aber nur schwerlich einem Systemfehler angelastet werden, der dann in eine konzertierte Fundamentalopposition hätte münden können. Anders sah das in der athenischen Demokratie aus, wo es in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts eine Gruppe von meist jüngeren Adligen gab, die trotz ihrer angenommenen soziopolitischen Überlegenheit keine Chance auf maßgeblichen Einfluss sahen. Sie wurden zu einer geheim operierenden Systemopposition und betrieben den Umsturz. In Rom hingegen konnte man jedes Jahr an den Namen und Köpfen ablesen, wie breit Aufstieg und Stagnation gestreut waren und wie der Zugang zum Amt sowie dann zum entsprechenden Senatsrang keineswegs von einer eingeschworenen Oligarchie zuverlässig dirigiert wurde. Etablierte besaßen erhebliche Patronagemacht, doch es scheint keine das gesamte Feld überspannenden Absprachen und Koalitionen gegeben zu haben.

Wankelmütig ist die Gunst des Volkes

Die Wahlen verliefen in vielen Fällen, gerade wenn eher unprofilierte Bewerber im Rennen waren, hochgradig unberechenbar. In vertrauter Kommunikation war es dann sagbar, die Wähler hätten nicht auf der Basis vernünftiger Abwägungen entschieden, sondern aufs Geratewohl, weswegen eine Abfuhr dem Selbstwertgefühl eines Unterlegenen keinen schweren Schaden zufügen sollte. Symbolisches Kapital konnte an einem Wahltag rasch dahinschmelzen, einstige Prominenz durchaus für Generationen unsichtbar werden. Zudem mochte ein falsches Wort im Wahlkampf den sicher geglaubten Erfolg zunichtemachen.

Sowohl die hohe Chancenfrequenz durch die jährlich stattfindenden Wahlen als auch die hohe Quote der Verlierer federten Niederlagen ab. Selbst wenn bei den Wahlen manipuliert wurde und die Chancen niemals gleich sein konnten, so waren die Ergebnisse doch nicht in jedem einzelnen Fall vorherzusehen. In jeder Generation gab es Beispiele, wie selbst hoch qualifizierte, angesehene und gut vernetzte Bewerber im Ringen um das oberste Amt eine „Ehrenrunde“ drehen mussten. In den Wahlarenen brach jedes Jahr aufs Neue das Fieber aus und war die Spannung des Tages der Abstimmungen eine der aufregendsten Erfahrungen im Leben eines Bürgers. Wahlniederlagen hätten, so ist in der Beispielsammlung des Valerius Maximus zu lesen, mitunter sogar einen heilsamen erzieherischen Effekt bewirkt, aus dreisten jungen Nobiles große und nützliche Bürger mit hoher Autorität zu machen. Die englische Althistorikerin Amy Russell stellt mit Recht fest, die Zeit unmittelbar nach einer Niederlage sei als Charaktertest gesehen worden; dabei habe es moralische wie politische Gründe gegeben, emotionale Reaktionen möglichst zu unterdrücken.

Auch die immer wieder eintretenden Enttäuschungen durch einen Standesgenossen konnten bewältigt werden. Zwar führten sie bisweilen zu einer erklärten Feindschaft (inimicitia) oder zumindest einer Aufkündigung der Gemeinschaft, sogar der Kommunikation. Da eine Kumulation solcher Abbrüche jedoch die Politik insgesamt enorm erschwert hätte, gab es die meist demonstrativ inszenierte Versöhnung durch Dritte.

Feldherren waren rechenschaftspflichtig

Wenn die Römer mit im Krieg besiegten Kommandeuren meist recht pfleglich umgingen, diente dies ebenfalls der Einhegung von Enttäuschung. Nicht nur die Standessolidarität legte es nahe, die Zuschreibung einer Niederlage vom Befehlshaber abzulenken, sondern auch das Wissen darum, wie unberechenbar der Erfolg in der Schlacht war. Eine sich längerfristig einnistende, aus der Elite womöglich verstärkte Enttäuschung des Volkes gegenüber den Feldherren hätte Autorität und Gehorsam generell untergraben, und eine Erwartung der Kommandeure, zu Sündenböcken gemacht zu werden, wäre ebenfalls kontraproduktiv gewesen. Der­artiges geschah lediglich rückblickend gegenüber Feldherren, die gefallen waren oder sich auf dem Schlachtfeld das Leben genommen hatten. Römische Feldherren waren zwar (auch) dem Volk gegenüber rechenschaftspflichtig, sie befanden sich jedoch durch die Einbindung in das gerade in Krisen zusammenrückende Kollektiv in einer sehr viel sichereren Position als die Strategen im demokratischen Athen, die von einem misstrauischen Volk regelmäßig für Niederlagen verantwortlich gemacht und unter Anklage gestellt wurden, wobei dann rasch, wie der Arginusenprozess im Jahr 406 zeigt, eine Entsolidarisierung eintreten konnte.

Auch weiter ausgefächerte Präferenzen dürften eine Rolle gespielt haben. Zwar waren Prominenz und politische Karriere nach einem bekannten Wort Christian Meiers beinahe synonym, doch schon in der Republik gehörten nicht alle Prominenzrollen zum militärisch-politischen Komplex. So betrieb der Patrizier C. Sergius Orata neben ei­ner durch Ra­tiona­lisierungs­maß­nahmen und technische Verbesserungen einträglichen Fisch- und Austernzucht am Lucrinersee und am Golf von Baiae noch ein schwunghaftes lmmobiliengeschäft. Über ihn und einen anderen Fischzüchter sagt Columella, sie „waren ebenso stolz auf ihre Namen von eingefangenen Fischen, wie einst ein Numantinus und Isauricus auf die Namen der von ihnen besiegten Völker“.

Auch auf wirkliche und begründete Enttäuschung, wie sie ein erzwungenes Exil darstellte, ließ sich verschieden reagieren. Egon Flaig hat die Optionen aufgezeigt: Cicero, der jammerte, barmte und alles tat, um nach Rom zurückzukehren, und Publius Rutilius Rufus, Konsul 105, der einer gerichtlichen Intrige zum Opfer fiel – und sein Schicksal annahm, Rückkehrchancen ausschlug und in Smyrna gleichsam zum Griechen wurde. Er scheint tatsächlich die seltene erste der genannten Optionen gewählt, also seine Präferenzen und Sinngebungen überprüft zu haben, konnte das aber auch leichter tun, weil er bereits länger als zehn Jahre ein hoch angesehener Konsular gewesen war und zudem anders als Cicero keine systemwidrig dauerhafte Lenkerrolle in der res publica anstrebte. Die Philosophie mag bei der Kontingenzbewältigung geholfen haben, und Rufus blieb im Exil keineswegs ohne Prominenz, sondern scheint ein bewunderter, vielbesuchter Mann geblieben zu sein.