Vanillin :
Aroma für alle

Von Karl Hübner
Lesezeit: 8 Min.
Vanilleschoten und deren Extrakte.
Seit 150 Jahren wird Vanillin synthetisch hergestellt. Auf tropische Rankpflanzen ist seither niemand mehr angewiesen. Den Geschmacksstoff erzeugt man aus Fichten, Holzresten oder Erdöl.

Bäcker rühren es in den Osterzopf, Nahrungsmittelkonzerne in ihre Joghurts, Puddinge und in Deutschlands beliebteste Eissorte. In Schokolade ist es enthalten, ebenso in Whisky aus Eichenholzfässern und in Chanel No. 5: Vanillin oder Vanillearomen, deren Hauptbestandteil es ist. Weltweit werden Lebensmitteln, Kosmetika und Medikamenten 20.000 Tonnen Vanillin zugesetzt, Tendenz steigend.

Vanillin ist indes keine Vanille. Diese ist eine Orchideengattung, die heute vor allem auf Madagaskar und den umliegenden Inseln, in Indonesien, Mexiko und Teilen Ostafrikas sowie auf einigen Pazifikinseln angebaut wird. Nach der Ernte werden die noch grünen Schoten getrocknet und fermentiert. Dabei nehmen sie eine braune Farbe an und bilden das typische Vanillearoma aus, zu dem geschätzt mehr als 400 chemische Verbindungen beitragen – das Vanillin ist nur eine davon, allerdings die geschmacklich dominanteste und mengenmäßig wichtigste. Es macht rund zwei Prozent des Schotengewichts aus.

Grüne Schoten der Vanilleplflanze auf Madagaskar.
Grüne Schoten der Vanilleplflanze auf Madagaskar.dpa

Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO werden jährlich knapp 8000 Tonnen Vanilleschoten geerntet. Das entspricht rund 160 Tonnen Vanillin. Damit ist klar: Die globale Vanilleernte bedient nur einen Bruchteil der Nachfrage. Hinzu kommt, dass der Anbau von Vanille arbeitsintensiv und damit kostspielig ist. Der allergrößte Teil des Bedarfs wird daher mit synthetischem Vanillin gedeckt.

Einige Jahre tüfteln

Die Ersten, denen es gelang, Vanillin auf chemischem Weg zu gewinnen, waren Wilhelm Haarmann und Ferdinand Tiemann. Während ihres Chemiestudiums in Berlin tüftelten sie in den frühen 1870er-Jahren an der Synthese. Vanillin an sich war zu der Zeit schon bekannt. So hatte man die weißen Kristalle genannt, die sich mit der Zeit auf Vanille-schoten bilden. Chemiker kannten sogar die Zusammensetzung des Moleküls: je acht Atome Kohlenstoff und Wasserstoff sowie drei Atome Sauerstoff. Die genaue Struktur des Moleküls, die vielleicht auch Ideen zu einem Syntheseweg gegeben hätte, war hingegen ungeklärt.

Haarmann und Tiemann fanden trotzdem einen Ansatzpunkt. Zuvor hatte nämlich ein anderer Student, Wilhelm Kubel, von einem „höchst angenehmen Vanillegeruch“ beim Experimentieren mit Coniferin berichtet, einer Substanz im Saft von Nadelbäumen. Kubels Bericht hatte die Neugier von Haarmann und Tiemann geweckt, und als Kubel das Thema nicht weiter verfolgte, übernahm das Duo die weitere Forschung am Coniferin.

Nach einigen Jahren des Tüftelns gelang es ihnen tatsächlich, aus Coniferin gezielt Vanillin zu gewinnen. Auch die Molekülstruktur konnten sie aufklären. Im Jahr 1874 publizierten sie ihre Erkenntnisse. Haarmann sah kommerzielles Potential für die Entdeckung und ließ sich das Vorgehen im Frühjahr desselben Jahres patentieren, also vor nunmehr 150 Jahren. Während Tiemann auf eine akademische Laufbahn schielte, wollte sich Haarmann fortan als Unternehmer versuchen und gründete in seiner Geburtsstadt Holzminden an der Weser im August 1874 die Vanillinfabrik Dr. Wilhelm Haarmann. Später wird man vom weltweit ersten Hersteller von Riech- und Aromastoffen sprechen, und so war das, was in einem Schuppen auf einem ehemaligen Mühlengrundstück begann, die Keimzelle eines heute bedeutenden Industriezweigs.

Teuerer als Gold

Das künstlich hergestellte Vanillin stieß bald auf Interesse bei jenen, die bisher die natürliche, durch Extraktion aus den Schoten gewonnene Substanz oder gar die Schoten selbst in ihren Rezepturen einsetzten, Schokoladenfabrikanten zum Beispiel. Mit dem naturidentischen Vanillin stand ihnen nun ein Ingredienz zur Verfügung, das sich für ihre Zwecke genauso gut eignete wie das Orchideenextrakt, aber deutlich günstiger war. „Ein Gramm natürliches Vanillin kostete damals etwa zehn Reichsmark und war damit teurer als Gold“, sagt Björn Bernhard Kuhse aus Halle in Westfalen. Der Chemielehrer im Ruhestand hat die Geschichte Wilhelm Haarmanns und des Vanillins erforscht. Im Jahr 2010, im Alter von über 70 Jahren, hat er zu dem Thema promoviert und später ein Sachbuch sowie einen Wissenschaftsroman über den Firmengründer veröffentlicht.

Fichten auf eine Plantage. Der Saft des Nadelbaums war der Rohstoff für die erste Vanillinproduktion von 150 Jahren.
Fichten auf eine Plantage. Der Saft des Nadelbaums war der Rohstoff für die erste Vanillinproduktion von 150 Jahren.dpa

Wilhelm Haarmann stand indes bald vor Rohstoffengpässen. Es war nicht so leicht, genügend Coniferin für eine dauerhafte Vanillinproduktion zu beschaffen. Diese Substanz ist in jungem Nadelgehölz enthalten. Also galt es, unzählige Fichten in ihrer Wachstumsphase zu fällen, zu entrinden und dann in Handarbeit den Stamm und das Innere der Rinde abzukratzen, um an den Saft zu gelangen. „Eine 20 Meter hohe Fichte liefert ungefähr einen Liter Saft, und darin befinden sich dann etwa vier Gramm Coniferin“, erklärt Kuhse – und weiß, wovon er spricht. Die Coniferin- und Vanillingewinnung von Haarmann und Tiemann hatte er eigenhändig nachvollzogen, nachdem 2007 der Sturm Kyrill in Ostwestfalen ganze Fichtenbestände umgeworfen hatte. Kuhse kratzte die Stämme unter der Rinde mit einem Messer ab, nahm den Saft von der Masse mit einem Schwamm auf und presste ihn in Eimer. Zu Hause trennte er den Saft per Zentrifuge von festen Inhaltsstoffen und nahm ihn dann mit zur Universität Bielefeld, wo er in den Semesterferien die Labore benutzen durfte. „Für ein Kilogramm Coniferin braucht man also ungefähr 250 Fichten“, sagt Kuhse und gibt damit eine Vorstellung davon, was die Pioniere vor gut 150 Jahren an Vorarbeit zu leisten hatten, um an Rohstoff zu gelangen. Wie Kuhse herausfand, stellte Haarmann sogar seine Flitterwochen im Frühjahr 1876 in den Dienst der Coniferin-Beschaffung und hatte dafür mit Gattin Luise den Schwarzwald angesteuert.

Neuer Weg

Kein Wunder, dass Wilhelm Haarmann bald darüber nachdachte, ob und wie er Vanillin aus etwas anderem herstellen könnte. Dafür gewann er den Chemiker Karl Reimer, der sich schon länger mit der Synthese ähnlich gebauter Moleküle beschäftigte. Reimer trat 1876 nicht nur ins Unternehmen ein, sondern wurde direkt Teilhaber – und Namensgeber: Aus der Vanillinfabrik Dr. Wilhelm Haarmann wurde die Firma Haarmann & Reimer.

Tatsächlich fand Karl Reimer einen neuen Syntheseweg mit dem Öl der Gewürznelken als Ausgangsstoff, dem Eugenol. Nelkenöl war zu der Zeit gut verfügbar, und so expandierte die Produktion, und das Unternehmen erschloss neue Märkte. Bald exportierte Haarmann sein Vanillin auch ins Ausland, etwa nach Frankreich und in die Vereinigten Staaten. Dort hatte das Produkt bereits 1876 auf der Weltausstellung in Philadelphia die Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Holzschnitzel bei einem Zellstoffhersteller. Aus den Resten könnte der Aromastoff Vanillin werden.
Holzschnitzel bei einem Zellstoffhersteller. Aus den Resten könnte der Aromastoff Vanillin werden.Bloomberg

Dabei gelang Haarmann ein auch aus heutiger Sicht moderner Marketing-coup, wie Kuhse berichtet: Der Unternehmer gewann nämlich die zur Jahrhundertwende populäre Kochbuchautorin Lina Morgenstern dafür, ein Buch mit dem Titel „Kochrecepte mit Anwendung von Haarmann & Reimer’s Vanillin“ zu verfassen. Darin teilte sie den Lesern gleich mit, welchen Vorteil das synthetische Vanillin gegenüber dem natürlichen Vanillearoma habe. Letzteres, so zitiert Kuhse aus Morgensterns Werk, enthalte auch „Harze und Fette . . ., die das feine Vanillearoma ungünstig beeinflussen“. Heute würden viele entgegengesetzt argumentieren: Natürliches Vanillearoma ist komplexer und sei damit besser als das des reinen Vanillins.

Expansion

Als Wilhelm Haarmann am 6. März 1931 im Alter von 83 Jahren starb, war aus der Firma ein Unternehmen mit etwa hundert Mitarbeitern geworden, das nicht mehr nur in Holzminden, sondern über Partner auch in Frankreich und den USA produzierte. Längst umfasste das Sortiment von Haarmann & Reimer weitere Substanzen wie den Waldmeister-aromastoff Cumarin oder den Veilchenduftstoff Alpha-Jonon.

Verbesserungen des Herstellungsverfahrens hatten das Vanillin im Laufe der Jahre billiger gemacht. Konkurrenten, darunter der Rhône-Poulenc-Vorläufer Sociétés Chimiques des Usines du Rhône, Boehringer und Söhne, Schering und Ciba, waren auf den Plan getreten. Mit der Zeit etablierten sich Syntheserouten mit anderen Ausgangsstoffen, etwa aus Lignin, dem Hauptbestandteil von Holz, oder Erdöl. Vor dreißig Jahren begannen Wissenschaftler, fermentative Verfahren zu entwickeln, also nach Prozessen, bei denen Mikroorganismen Naturstoffe in Vanillin umwandeln. Ein beliebter Ausgangsstoff dafür ist die Ferulasäure, die aus natürlichen Quellen wie Reis oder Mais stammt, aber auch aus Eugenol synthetisiert werden kann.

Nach Ansicht von Siegfried Waldvogel vom Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion in Mülheim an der Ruhr hat die biotechnologische Route Nachteile. So werde mit pathogenen Mi­kroorganismen gearbeitet, und die Reinigung des so gewonnenen Vanillins sei aufwendig. Waldvogel selbst forscht mit seiner Arbeitsgruppe an Vanillinsynthesen, die von Lignin ausgehen, einem nachwachsenden Rohstoff. Ohnehin fallen jedes Jahr 150 Millionen Tonnen Lignin bei der Herstellung von Zellstoff als Abfall an.

Vanillin aus Holz

Die chemische Beziehung zwischen dem Lignin und Vanillin lässt sich auch an der Vanillenote von Weinen oder in Eichenfässern gereiften Whiskys erkennen. „Manche molekularen Bausteine des Lignins sind dem Vanillin sehr ähnlich, und unter bestimmten Bedingungen kann sich nach einer Ligninspaltung eben auch Vanillin bilden“, erläutert Waldvogel. Derzeit nutzt allerdings nur der norwegische Hersteller Borregaard Lignin als Rohstoff für eine industrielle Vanillinsynthese. Waldvogel schätzt diesen Anteil auf einen Drittel des Weltmarktes. Der Rest werde weitgehend aus petrochemischen Rohstoffen hergestellt, vor allem in China. Nur kleine Mengen stammten aus Biofermentern – oder aus Vanilleschoten.

Mit seiner Forschung möchte Waldvogel die Bedeutung von Lignin als Rohstoff erhöhen. Vor allem möchte er dabei sogenanntes Kraft-Lignin nutzbar machen. Damit sind die Abfälle aus dem weltweit wichtigsten Verfahren zur Zellstoffgewinnung gemeint – dem Kraft-Prozess. Eigentlich ist dies eine fast unerschöpfliche Quelle. Allerdings verändere der Kraft-Prozess die Lignin-Moleküle derart, dass sie danach schwer zu knacken seien, sagt Waldvogel. Borregaard dagegen nutze für seine Vanillingewinnung die Lignin-Abfälle aus dem Sulfitverfahren, einem weniger gängigen Prozess zur Gewinnung von Zellstoff.

Erfolge im Labormaßstab hat Waldvogels Gruppe bereits erzielt. So gelang es, Kraft-Lignin elektrochemisch direkt in Vanillin zu überführen. Ein zweiter Ansatz erfolgt über einen Zwischenschritt. Dabei werden zunächst Carbonat-Ionen elektrochemisch in sogenannte Peroxodicarbonat-Ionen überführt, die dann in einer zweiten Stufe ihrerseits bestimmte Lignin-Bausteine zu Vanillin oxidieren. Derzeit baue ein Industriepartner für beide Ansätze Pilotanlagen, um die technische Machbarkeit zu untersuchen, sagt Siegfried Waldvogel. „Stammt der dafür benötigte Strom aus erneuerbaren Energien, ist das grüne Chemie“, sagt Waldvogel. Aber es gebe noch weitere Vorteile. So könne man auf teure und vielleicht problematische Katalysatoren oder Reagenzien verzichten, wie sie etwa Borregaard für sein Verfahren noch benötigt.

Mehr Versuche

Seit den ersten Versuchen von Wilhelm Haarmann und Ferdinand Tiemann vor 150 Jahren hat sich also viel getan. Eine Sache haben die Versuche rund um das Lignin mit den Anfängen der Vanillinsynthese gemein: den Baum als Rohstofflieferanten. Nur dass aus dem Coniferin im Saft der Nadelbäume inzwischen Lignin geworden ist, jener Stoff also, der dem Holz seine Festigkeit verleiht.

Björn Bernhard Kuhse hat in seiner Dissertation erarbeitet, wie Vanillinsynthese zu einem Thema für den Chemieunterricht an Schulen werden kann. Er hofft, Experimente etwa mit dem Rohstoff Coniferin könnten „Schülern einen ganz besonderen Zugang zum Lebensraum Wald erschließen“. Das gelte dann auch für Lignin.

Und was ist aus Wilhelm Haarmanns Firma geworden? Als Haarmann & Reimer trug das Unternehmen noch bis zum Jahr 2003 den Namen seines Gründers, von 1954 bis 2002 allerdings unter dem Dach des Bayer-Konzerns. 2003 fusionierte es dann mit dem Branchenkonkurrenten und Ortsnachbarn Dragoco zu Symrise, das im Jahr 2006 an die Börse ging und 2021 in den DAX aufstieg. Heute hat der Konzern rund 12.000 Mitarbeiter und zählt zu den größten Aroma- und Duftstoffherstellern weltweit. Dafür verarbeitet es schon lange auch Vanilleschoten und kooperiert mit Kleinbauern auf Madagaskar. Synthetisches Vanillin, auf das Wilhelm Haarmann das Unternehmen gründete, stellt es allerdings nicht mehr her.