1. Mai :
Feste, Andacht und Krawall

Von Theo Stemmler
Lesezeit: 7 Min.
Mitglieder der Burschenschaft Perchting stemmen einen großen Maibaum
Fast jede Bevölkerungsgruppe begeht den 1. Mai anders. Was die Ursprünge der unterschiedlichen Traditionen sind.

Mit „Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün“ ist es nicht getan: Kein Feiertag weist so viele widersprüchliche Merkmale auf wie der 1. Mai – in keinem anderen überlagern sich so viele unterschiedliche kulturelle, religiöse und politische Traditionen.

Jede Bevölkerungsgruppe begeht den 1. Mai anders. Die Städter fahren aufs Land, um das dort noch in Resten vorhandene alte Brauchtum zu besichtigen: Maibaum und Volkstänze, bereits am Abend zuvor Hexenfeuer, Maisprung und Tanz in den Mai; die frommen Katholiken gehen in die Kirche zur Maiandacht; die politisch Engagierten versammeln sich zu einer Kundgebung oder zu einem Demonstrationszug; die Autonomen machen Krawall und zünden in einem Maifeuer der besonderen Art Autos an. Und alle trinken den würzigen Maibock oder die Maibowle, deren wichtigster Bestandteil der Waldmeister ist, das sogenannte Maikraut.

Ursprünglich war der 1. Mai – wie auch der ganze Monat – ausschließlich ein Fest der wieder erwachenden Natur, der Vegetation, Vitalität und Liebe. Die Römer feierten Ende April/Anfang Mai die Ludi Florales – ein Frühlingsfest zu Ehren der Vegetationsgöttin Flora, in dessen Mittelpunkt die neu sprießende Blütenpracht und ausgelassenes erotisches Treiben standen. Auch während des Mittelalters wird das Ergrünen, Knospen und Blühen in zahlreichen Bräuchen gefeiert, unter anderem durch Umzüge, den Maien-Ritt, die Inthronisierung eines Mai-Königspaars und das Aufstellen eines Maibaums.

An die heidnischen Ursprünge in Vegetationskulten erinnert die Benennung „Mai“, die wohl auf die griechischen und altitalienischen Fruchtbarkeitsgottheiten Maia oder Maius zurückgeht. Dagegen ist die Deutung des „Wonnemonats“ als „Monat der Wonne“ unzutreffend: Sie interpretiert das althochdeutsche Wort „winni-monad“ („Weide-Monat“), in dem man das Vieh wieder auf die Weide treibt, volksetymologisch falsch.

Maiglöckchen über der Tür

Die Kontinuität der Mai-Symbolik wird anhand einer Blume besonders deutlich. Convallaria majalis, das Maiglöckchen, hat sich von der Antike über Mittelalter und Renaissance bis heute eine Wertschätzung für den Mai bewahrt. An diesem Beispiel lässt sich der Übergang vom Mythos zur Folklore beobachten. In altgriechischer Überlieferung erschafft der vielbeschäftigte Apollo, der als Gebieter über den Parnass auch für die neun Musen zuständig war, das Maiglöckchen. Aus ihm legt er einen dichten natürlichen Teppich an, damit die zarten Füße der neun Damen keinen Schaden nehmen.

Im Mittelalter befestigten die verliebten Jünglinge Maiglöckchen über der Tür der Umworbenen. Diese erotische Konnotation wurde besonders in Frankreich kultiviert. König Karl IX. führte wohl 1560 den Brauch ein, am 1. Mai den Damen des Hofs Maiglöckchen zu schenken. Am „jour du muguet“ verschenkt man bis heute Maiglöckchen als Glücksbringer.

Auch in der Mode war das „muguet“ eine der beliebtesten Blumen. Zur Zeit der Belle Époque verschenkten in Paris die Couturiers Maiglöckchen an ihre fleißigen Näherinnen. Christian Dior, der Übervater der französischen Mode, machte diese seine Lieblingsblume zum Emblem seines Modehauses.

„Bitttag um gesegnete Arbeit“

Trotz immer wiederkehrender kirchlicher Verbote heidnischer Bräuche haben sich einige bis heute in ländlichen Gegenden erhalten. Im Gegenzug führte die katholische Kirche Ende des 18. Jahrhunderts die Maiandacht zu Ehren der Muttergottes vor einem blumengeschmückten Altar ein – zunächst in Italien, dann in Deutschland und anderen Ländern. Folgerichtig wird seither der Mai auch Marienmonat genannt. Basis für diese mariologische Umformung bildet die symbolische Deutung Mariens als erste Blume christlichen Heils – als „schönste aller Frauen“, wie es in einem alten Kirchenlied heißt.

Während sich Maiandacht und Marienmonat bei Katholiken großer Beliebtheit erfreuen, ist der von Papst Pius XII. 1955 eingeführte „Gedenktag Josefs des Arbeiters“ am 1. Mai nie ins Bewusstsein der Gläubigen gedrungen: Die Ausrufung Josefs, des Zimmermanns aus Nazareth, zum christlichen Arbeiterführer gegen seine sozialistischen Widersacher war denn doch allzu gewagt und plump.

Auch der evangelische Versuch, den Tag der Arbeit für das Christentum zu gewinnen, hat sich nicht als sehr erfolgreich erwiesen, obwohl in der Liturgie des „Bitttags um gesegnete Arbeit“ verlockend verkündet wird: „Wir leben nicht, um zu arbeiten, vielmehr arbeiten wir, um zu leben.“

Der 1. Mai wird seit dem 19. Jahrhundert für politische Zwecke genutzt

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird der 1. Mai für politische Zwecke genutzt: Für die Arbeiterbewegung wird er zum wichtigsten Tag ihrer Geschichte, an dem sie ihre Forderungen und Errungenschaften in Kundgebungen und Demonstrationszügen öffentlich macht, aber auch der Opfer in ihren Reihen gedenkt.

Zentrale Forderung der Arbeiterschaft in der Frühzeit der Industrialisierung war die Verringerung der täglichen Arbeitszeit von zwölf oder gar 16 Stunden (in einer Sechstagewoche) auf acht. Außerdem ging es um eine Erhöhung der kärglichen Löhne.

Trotz immer wiederkehrender kirchlicher Verbote heidnischer Bräuche haben sich einige bis heute in ländlichen Gegenden erhalten.
Trotz immer wiederkehrender kirchlicher Verbote heidnischer Bräuche haben sich einige bis heute in ländlichen Gegenden erhalten.dpa

Als besonders wichtig sollten sich die Auseinandersetzungen erweisen, die sich Ende April/Anfang Mai 1886 in den Vereinigten Staaten abspielten, vor allem in Chicago. Hier hatten sozialistisch-anarchistische Arbeiterführer am Abend des 1. Mai zum Streik und zu einer Massenversammlung auf dem Haymarket aufgerufen, an der etwa 90.000 Männer, Frauen und Kinder teilnahmen.

Unruhen schon in der Nacht vor dem 1. Mai

An diesem Tag zu demonstrieren bot sich aus mehreren Gründen an. Er brachte in viele amerikanische Städte große Unruhe, da er als „moving day“ von Vermietern und Arbeitgebern dazu genutzt wurde, bestehende Mietverträge und Arbeitsverhältnisse zu kündigen und so Mieter und Arbeiter zum Umzug zu zwingen. Überhaupt war dieser Tag samt der vorhergehenden Nacht schon in Europa von rebellischem Aufbegehren gekennzeichnet.

Im Verlauf der Zusammenstöße in Chicago vom 1. bis 4. Mai wurden mehrere Streikende und Polizisten getötet. Die Auseinandersetzungen eskalierten noch einmal, als am 4. Mai eine Bombe geworfen wurde, der sieben Polizisten zum Opfer fielen. Die Urheber dieses Anschlags wurden nie ermittelt.

Im folgenden Prozess – einem Justizskandal – mussten acht den Behörden bekannte (und verhasste) Anarchisten und Sozialisten als Sündenböcke herhalten. Vier von ihnen wurden stellvertretend für die gesamte Protestbewegung unschuldig gehenkt – fast alle Deutschamerikaner, an ihrer Spitze der bei Bad Hersfeld geborene August Spies, Chefredakteur der deutschsprachigen Arbeiterzeitung.

„Festtag der Arbeiter aller Länder“

Die internationale Arbeiterbewegung hatte ihre Märtyrer. Auf der ganzen Welt wurde gegen die Justizmorde protestiert – unter anderen von George Bernard Shaw. Zwei weitere zum Tode Verurteilte wurden zu lebenslanger Haft „begnadigt“, ein anderer brachte sich um, und ein Angeklagter wurde zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

1889 beschloss der Gründungskongress der Zweiten Internationale in Paris, auch im Gedenken an den blutigen 1. Mai in Chicago diesen Tag zum „Kampftag der Arbeiterbewegung“ auszurufen, mit dem die Macht der Arbeiterklasse demonstriert werden sollte. Dieser Kampftag sollte ursprünglich einmalig im Jahr 1890 stattfinden, erwies sich aber als so erfolgreich, dass er ein Jahr später vom Brüsseler Kongress der Zweite Internationale zu einem alljährlich stattfindenden „Festtag der Arbeiter aller Länder“ erklärt wurde und seitdem zu einer festen Institution geworden ist.

Noch am Abend des 1. Mai 1890 schreibt Friedrich Engels, der Kampfgefährte von Karl Marx, voller Begeisterung: „Das Schauspiel des heutigen Tages wird den Kapitalisten und Grundherren die Augen darüber öffnen, dass heute die Proletarier aller Länder in der Tat vereinigt sind.“

Gewerkschaften kämpften mit Streiks für einen arbeitsfreien Feiertag

In Deutschland kämpften die Gewerkschaften seit 1890 auch mit Streiks für die Einführung eines arbeitsfreien „Feiertags der Arbeiter“ am 1. Mai – doch der Erfolg war lange Zeit dürftig. Die Streiks stießen auf den erbitterten Widerstand der Regierung und der Unternehmer, die oft mit Aussperrungen und „schwarzen Listen“ reagierten.

Der Erste Weltkrieg zerstörte die internationale Solidarität der Arbeiterbewegung und führte nach seinem Ende in Deutschland zur fatalen Zersplitterung in drei Parteien: SPD, USPD und KPD. Sie stritten – vereint mit christlichen Gewerkschaften – Jahr für Jahr um die Maifeiern.

Besonders der Zwist zwischen SPD und KPD führte zu dem berüchtigten „Blutmai“ 1929, als die KPD das Demonstrationsverbot am 1. Mai durch den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Berlins ignorierte. Bei dem Einsatz von 13.000 Polizisten kam es zu mehr als 30 Todesopfern unter Teilnehmern und unbeteiligten Passanten.

Der 1. Mai wurde von Faschisten und Kommunisten missbraucht

Die Nationalsozialisten schließlich versetzten der politischen Maifeier den Todesstoß. Ausgerechnet sie erhoben den 1. Mai erstmals zum gesetzlichen Feiertag auf Dauer und machten ihn zum „Tag der nationalen Arbeit“. Zynisch vermerkte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch: „Am 1. Mai wird es ganz groß. Am 2. Mai werden wir dann die Gewerkschaftshäuser besetzen.“ So kam es auch: Die Gewerkschaften wurden zerschlagen, ihre Führer in „Schutzhaft“ genommen oder ermordet.

Der 1. Mai wurde von 1934 an zum „Nationalen Feiertag des deutschen Volkes“ erklärt und in eine Feier der „Volksgemeinschaft“ mit monströsem Propagandaaufwand verwandelt, an der maßgeblich Albert Speer mitwirkte. Nun wurden die Maibäume mit Hakenkreuzfähnchen geschmückt.

Auch in anderen Ländern wurde der ehrenwerte Tag der Arbeit von faschistischen und kommunistischen Regimen für die eigenen politischen Ziele missbraucht und mit gewaltigen Militärparaden angereichert (so in der Sowjetunion und der DDR) – oder verboten (so im Italien Mussolinis und im Spanien Francos).

Der 1. Mai wurde zum „Tag der Arbeit“

Inzwischen ist der 1. Mai in vielen Ländern Tag der Arbeit. Mit Ausnahmen: So feiert man ausgerechnet in den Vereinigten Staaten, aus denen der wichtigste Impuls zu seiner Einführung gekommen war, den Labor Day am ersten Montag im September.

In Deutschland wurde der 1. Mai nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gesetzlicher Feiertag und später in vielen Verfassungen der Bundesländer verankert. Von 1950 bis heute werden die Veranstaltungen zum Tag der Arbeit vom DGB organisiert. Die Gewerkschaften bedauern seit Jahren ein abnehmendes Interesse der Mitglieder an ihren Veranstaltungen. Hier ist wohl ein Rückzug in die bürgerliche Idylle zu erkennen: Familienausflug ins Grüne mit Grillfest, Ballspielen und chorischen Gesängen.

In solch ein politisches Vakuum sind längst radikale Gruppierungen gestoßen – etwa seit 1987 bei den Maikrawallen in Berlin-Kreuzberg, als Autonome ihrer Lust auf Anarchie freien Lauf ließen, Barrikaden errichteten, Autos anzündeten und Geschäfte plünderten. Es ist ein weiter Weg vom Haymarket nach Kreuzberg.

Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht am 1. Mai 2019