Steven Spielbergs Kindheit :
Wer unseren Blick auf das Kino prägte

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Das Geheimnis der Bilder – Gabriel LaBelle als pubertierender Sammy Fabelman in Steven Spielbergs Film
Am Anfang war ein Crash: Hollywoodregisseur Steven Spielberg erzählt in dem autobiographischen Film „Die Fabelmans“, wie er schon als Kind zum Kino fand.

Der Beginn aller Liebe und Leidenschaft, so scheint es, ist Schrecken. Da wird ein kleiner Junge, er ist sechs Jahre alt, von den Eltern über den Bürgersteig gezerrt. Die Schlange, die vorm Kino steht, ist lang, der Junge will nicht hinein. „Filme sind Träume“, sagt die Mutter, die sich beruhigend zu ihm hinunterbeugt. „Träume sind unheimlich“, sagt der Junge trotzig mit tränenerstickter Stimme. Dann sitzen sie doch im Saal, es läuft Cecil B. DeMilles „Die größte Schau der Welt“, der spektakuläre Zirkusfilm aus dem Jahr 1952, und gegen Ende kommt der große Crash. Ein Auto stößt mit einem Zug zusammen, zwei Züge prallen aufeinander – und es ist dieser Unfall, diese Szene, die den kleinen Jungen nicht mehr loslässt.

Sie hat ihn bis heute nicht losgelassen, das kann man sagen, weil dieser kleine Junge im Film zwar Sammy Fabelman heißt, aber Steven Spielbergs Kindheit für seinen biographischen Hintergrund sorgt. Spielberg, einer der erfolgreichsten, wenn nicht der erfolgreichste Regisseur der Filmgeschichte, hat „Die Fabelmans“ lange nicht machen wollen. Angeblich soll die Pandemie, seine Sorge ums Überleben, ein wesentlicher Antrieb gewesen sein, dieses Projekt doch anzugehen, das er so lange vor sich her geschoben hatte.

Angst vorm großen Bild

Es ist nicht ohne Ironie, dass der Mann, der Außerirdische landen, der Dinosaurier auferstehen und den weißen Hai zu Wasser ließ, Angst hatte, ins Kino zu gehen, Angst vor den überlebensgroßen Bildern, den Ausgeburten der Träume. Zugleich wird in dieser kleinen Urszene wie auch im ganzen Film noch einmal klar, was auch vorher, wenn man nur genau hinsehen wollte, schon immer zu ahnen war: dass Spielbergs Blockbuster nicht nur große Entertainmentmaschinen sind, sondern fast so persönlich wie „Schindlers Liste“, dass die Abenteuer eines Indiana Jones mehr von ihm und seinen Phantasien erzählten als die seriösen Filme mit ihren staatstragenden Botschaften wie „Der Soldat James Ryan“, „Amistad“ oder „Lincoln“.

In der Auftaktsequenz der „Fabelmans“, deren Familienname das Geschichtenerzählen schon enthält, wird nicht nur eine traumatische Erfahrung sichtbar; wenn die Familie nach Hause fährt, zieht ein weiteres Motiv vorbei. Es ist gerade Weihnachtszeit, die Einfamilienhäuser in Suburbia sind geradezu orgiastisch mit Weihnachtsschmuck dekoriert – nur bei den Fabelmans nicht, der einzigen jüdischen Familie. Sie feiern Chanukka. Und Sammys Geschenk, eine elektrische Eisenbahn, ist der erste Schritt zur Traumabewältigung. Sammy stellt das Zugunglück aus dem Kino nach – der Sachschaden verärgert den Vater, der nichts begreift.

Den Weg ins Kino öffnet die Mutter. Sie wird zur Komplizin, indem sie dem Sohn die Super-8-Kamera des Vaters in die Hand gibt. Er lässt Auto und Zug noch einmal ineinanderkrachen und kann so den Crash bewältigen: Einmal gefilmt und damit beliebig oft reproduzierbar, verliert der Unfall nicht nur seinen Schrecken, sondern wird kontrollierbar, weil seine Mechanik durchschaut ist. Das ist, wenn man so will, die Bestätigung eines Axioms der neuzeitlichen Philosophie: Wahr ist, was wir selbst machen können.

Spielberg hat eine so sichtbare Freude, dieses Zugunglück besser aussehen zu lassen, als es der kleine Steven damals gefilmt haben kann, dass sie einen sofort ansteckt. Und es ist eine der schönsten Szenen, wenn dann der entwickelte Film per Post eintrifft, wenn Sammy sich heimlich mit dem Projektor in einen dunklen Raum zurückzieht und mangels einer Leinwand oder auch nur einer weißen Wand das Zugunglück auf seine Handflächen projiziert.

Der Zauber der Anfänge

Diesem Zauber der Initiation läuft der Film die ganze Zeit hinterher. Er kommt ihm nahe, ohne ihn jedoch noch mal einzuholen. Wir sehen Sammys weitere Versuche. Die Schwestern werden zu Mumien, weil er sie in Klopapier einwickelt und filmt, wie er überhaupt nahezu alles aufnimmt, was ihm und der Familie widerfährt. Als könnte er nichts sehen, wenn der Apparat kein Bild davon macht.

Bei den vielen Umzügen, dem Ankommenmüssen in einer neuen Umgebung, ist die Kamera Navigationshilfe und Medium der Weltaneignung. Sie versetzt ihn mitten hinein und etabliert zugleich eine Distanz, sie ersetzt die Unmittelbarkeit des Blicks durch eine Vermittlung, sie verwandelt ein Geschehen in eine Geschichte.

Steven Spielberg nimmt in Berlin den Ehrenbären für sein Lebenswerk in Empfang.
Steven Spielberg nimmt in Berlin den Ehrenbären für sein Lebenswerk in Empfang.EPA

Sammy dokumentiert die neuen Häuser und die Zwiste mit den Schwestern, die Capricen der Mutter (wieder einmal ganz großartig: Michelle Williams), die manchmal enigmatisch ist, manchmal leicht exaltiert, die beinahe Konzertpianistin geworden wäre und der entgangenen Künstlerinnenexistenz leise nachtrauert. Auch der Vater (Paul Dano), ein Ingenieur und ein Nerd, bevor der Begriff existierte, ist aufgrund seines Berufs oft abwesend, aber auch nicht wirklich anwesend, wenn er zu Hause ist.

Der Film folgt den Stationen des Heranwachsens. Insofern ist er Coming-of-Age-Geschichte und Bildungsroman. Die Großmutter stirbt, Sammy sieht im Kino „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“, er dreht erste Actionszenen als Pfadfinder mit großem Improvisationstalent. Und immer wieder ist da, wie ein Appendix der Familie, Onkel Bennie (Seth Rogen), der kein Onkel ist, sondern der beste Freund des Vaters.

Das Tempo der Erzählung ist zwischendurch schleppend, die dramatische Kurve eher flach. Aber Spielberg, der immer Wert darauf gelegt hat, dass sich eine gute Geschichte in fünfundzwanzig Worten oder weniger erzählen lassen muss, weiß natürlich, wie die Ökonomie des Erzählens funktioniert.

Er zeigt einen eher langweiligen Campingausflug der Familie mit einer mütterlichen Tanzeinlage, man ist fast froh, wenn der Abend am Lagerfeuer vorbei ist. Er lässt dann Onkel Boris (Judd Hirsch) zu Besuch kommen, einen schrägen Vogel, der sich Sammy vornimmt, der ihm erklärt, dass Kunst und Familie sich nicht gut vertrügen; dass Kunst etwas Verzehrendes habe, wie Sammy an seiner Mutter sehen könne.

Entdeckung mit Schrecken

Dann ist Onkel Boris wieder weg. Sammy, als sei er verstummt, will auf einmal nicht mehr filmen. Als er schließlich doch, um seiner Mutter einen Gefallen zu tun, altes Material zu einem Film montieren will, hat er am Schneidetisch seinen „Blow Up“-Moment, wie man das nach Michelangelo Antonionis Film nennen könnte, in dem ein junger Fotograf auf einer Vergrößerung etwas entdeckt, was nicht für seine Augen bestimmt war.

Für Sammy werden seine Aufnahmen vom Campingausflug beim genauen Ansehen Träger einer Wahrheit, die ihm wohl lieber verborgen geblieben wäre. Mehr sollte nicht verraten werden. In diesen Sequenzen gewinnt der Film auf ganz andere Weise kurz die Intensität seines Anfangs zurück.

Im letzten Drittel befindet sich die Familie in Kalifornien, das Haus ist nicht bezugsfertig, als sie ankommen, die Ehe der Eltern abbruchreif. Sammy erlebt in der Highschool antisemitische Attacken. Und er zeigt den beiden Bullys, die ihn drangsaliert haben, auf subtile Weise die Macht der Inszenierung.

Der Film, den er für die „Prom Night“, für den Ball am Ende der Highschool-Zeit dreht, macht ihnen beiden zu schaffen – weil sie sich auf eine Weise darin wiedererkennen, die ihnen nicht angenehm ist. Die Mitschülerin, in die sich der Außenseiter Sammy verliebt, die einen Juden bestaunt wie einen Exoten, setzt in ihrer kitschigen Jesusverehrung und ihren ungelenken Bekehrungsversuchen eine bizarre Fußnote.

Doch nicht immer gelingt Spielberg der Wechsel der Tonlagen in seiner Erzählung. Im Epilog gibt es eine Begegnung zwischen dem vereinsamten Vater und Sammy in Los Angeles, da entsteht eine kurze Nähe aus traurigen Reminiszenzen. Unmittelbar darauf folgt eine übertrieben parodistische, aber gar nicht so wahnsinnig lustige Sequenz, in der ein von, ja, ernsthaft, David Lynch gespielter John Ford dem Praktikanten Sammy erklärt, was ein langweiliges Bild ist. Beide Szenen passen nicht so gut zusammen.

Dennoch lohnt es sich natürlich unbedingt, „Die Fabelmans“ anzusehen. Allein schon, weil wir Älteren mit Spielbergs Filmen aufgewachsen sind und die Jüngeren deren Faszination noch immer spüren. Und weil der Film von der Kindheit eines Mannes erzählt, der wesentlich definiert hat, was wir heute unter Kino verstehen.