Die Künstlerin Miya Masaoka :
Das geheime Leben der Anderen

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Eine aktuelle Arbeit: „Monumenta Ethereal“ von Miya Masaoka
Eine Berliner Ausstellung feiert das Werk der amerikanischen Klangkünstlerin und Musikerin Miya Masaoka. Kann man es mithilfe des immer noch viel zu unbekannten Denkers Édouard Glissant entschlüsseln?

Da ist ein Wald. Gestrüpp. Die ganze wild wuchernde Natur. Plötzlich tauchen ein paar Gestalten auf, die einerseits ein wenig aussehen wie als Büsche getarnte Soldaten, die aber auch Phantasiewesen sein könnten aus einem Zwischenreich, in dem sich Menschen und Pflanzen begegnen und in dem vielleicht auch schon die Gattungsgrenzen zwischen beiden aufgehoben wurden wie in den antiken Mythen des Ovid, in denen sich die Nymphe Daphne im Moment größter Gefahr in einen Lorbeerbusch verwandelt und die Grenzen zwischen Mensch und Pflanze fließend sind.

Die seltsamen Naturwesen in diesem Film, der zurzeit in Berlin zu sehen ist, haben Instrumente dabei; eines spielt eine Geige in diesem Wald, was eine interessante Rückkehr des Holzes, aus dem das Instrument gebaut wurde, an den Ort ist, von dem es stammt. Der zum Instrument verarbeitete Baum kehrt zurück und macht Töne, die sich mischen mit den Geräuschen, die der Wald selbst hervorbringt – dem Rauschen der Blätter, dem Knacken der Baumstämme im Wind.

Der Film ist ein Werk der amerikanischen Komponistin, Klangkünstlerin und Musikerin Miya Masaoka. Die Berliner Kulturinstitution Savvy Contemporary widmet der 1958 in Washington geborenen Künstlerin jetzt eine große Ausstellung mit dem Titel „Refuge in the Vegetal World“, der schon andeutet, worum es der Künstlerin unter anderem geht – um die Koexistenz des Menschen mit anderen, nichthumanen Wesen wie zum Beispiel Bienen.

Bienen in sandfarbenen Landschaften

Lange bevor die Insekten zum Modegeschöpf des Kulturbetriebs avancierten, nämlich schon 1996, arbeitete Masaoka für ihr „Bee Project #1“ mit einer Mischung von Livemusik und Bienensummen. In Berlin ist auch ein früher Film zu sehen, wo zahllose Bienen über eine sandfarbene Landschaft krabbeln, die sich bei genauerem Hinsehen als nackter menschlicher Körper entpuppt. Das komplexe System Bienenschwarm überlagert das komplexe System Haut. An solchen Überlagerungen ist Masaoka interessiert.

Um einen Zugang zu ihrem Denken und ihrer Kunst zu finden, lohnt sich ein Umweg über das Werk eines Schriftstellers und Philosophen, der in Europa immer noch viel zu wenig bekannt ist und um dessen Werk und seine Verbreitung sich Savvy schon in früheren Projekten verdient gemacht hat: Édouard Glissant, der 1928 in Martinique geboren wurde und 2011 in Paris starb, kam 1946 nach Paris, um dort Philosophie, Ethnologie und Literatur zu studieren.

Er wurde Sprecher des ersten Kongresses schwarzer Schriftsteller und Künstler und 1958 schlagartig bekannt, als er den zweitwichtigsten Literaturpreis des Landes, den Prix Renaudot, für seinen Debütroman „Die Sturzflut“ erhielt, der auf Deutsch leider nur noch antiquarisch erhältlich ist. Glissants Leben allein wäre Stoff für einen Roman: Er engagierte sich für die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien Frankreichs, forderte als Mitglied der „Front Antillo-Guyanais“ die Autonomie auch der französischen Karibik-Départements, was der damalige Präsident Charles de Gaulle für so gefährlich hielt, dass Glissants Bewegung offiziell verboten und der Philosoph für mehrere Jahre von der Rückreise in seine Heimat abgehalten wurde.

Wenn ein komplexes System auf ein anderes trifft: Miya Masaokas Videoarbeit „Adventures of the Solitary Bee“ aus dem Jahr 2000
Wenn ein komplexes System auf ein anderes trifft: Miya Masaokas Videoarbeit „Adventures of the Solitary Bee“ aus dem Jahr 2000Miya Masaokas

Mindestens ebenso wichtig wie Glissants Kampf für die politische Unabhängigkeit der Karibik ist sein philosophisches Werk. Glissant prägte die Idee der „Kreolisierung“: „Wenn Sie eine afrikanische Rhythmik nehmen und westliche Instrumente, Saxophon, Geige, Klavier, Posaune“, lautet eine vielzitierte Erklärung des Konzepts durch Glissant selbst, „dann haben Sie den Jazz. Das nenne ich Kreolisierung. Ich bin sicher, dass die Asiaten und die Hispanos, die Weißen und Schwarzen in den Städten Kaliforniens einmal etwas Neues hervorbringen, das genau so wunderbar sein wird wie der Jazz.“

Der Globalisierung – die für ihn die Ausbeutung der Welt durch wenige multinationale Konzerne und die Einebnung kultureller Unterschiede bedeutet – stellt Glissant die „Globalität“, französisch „mondialité“, entgegen: die schöpferische, untrennbare Vermischung aller Kulturen. Lange vor den Kämpfen der aktuellen Identitätspolitik kritisierte Glissant die Idee scharf umrissener Identitäten, die einander kämpferisch gegenüberstehen. Seine „Créolité“ bezeichnet einen Zustand, in dem sich alles so durchdringt und mischt, dass nicht mehr feststellbar ist, ob jemand nun „weiß“, „schwarz“ oder „asiatisch“ ist; was ihn interessierte, waren die untrennbare Durchmischung und eine „Poetik der Beziehung“. Dabei geht es vor allem um die Beziehungen unter Menschen. Gleichzeitig war Glissant einer der Ersten, in dessen Werk das Verhältnis von Mensch, Natur und Botanik eine wesentliche Rolle spielte.

Herrschaft der Plantagenbesitzer in der Pflanzenwelt

In „Sturzflut“ etwa wird die Geschichte von Thaël erzählt. Er lebt in den Bergen mit einer Gruppe von Abtrünnigen, die gegen die Sklaverei kämpfen, und soll Garin, einen Verräter, ermorden. Glissant schreibt dieses Drama auch als Drama aus der Welt der Pflanzen. Auf der einen Seite steht die Monokultur der Zuckerrohrplantagen in der Ebene, die von Kolonisatoren und Sklaventreibern angelegt wurden; auf der anderen Seite, als Gegenbild zur Monokultur, die die Herrschaft der Plantagenbesitzer in der Pflanzenwelt abbildet, wird die Vermischung einheimischer und nichtendemischer Pflanzen im Dschungel als Gegen- und Idealwelt beschrieben: das Durch- und Ineinander von Seidenbaum, Schweinepflaume und Flammenbaum, Bougainvillea und Flamingoblume. Das Schicksal der Figuren entscheidet sich schließlich auch am Wissen um die Pflanzenwelt der Insel. So blendet der Roman Politik und Botanik in eins.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
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Glissants „Poetik der Beziehung“ zwischen Mensch und Natur ist vielleicht ein Schlüssel zum Werk von Masaoka. Während der Blick des Städters in der Natur vor allem Einfachheit sieht – die simplen Freuden des Landlebens, Bäume, Wiesen, alles schön übersichtlich – oder ein Materiallager für den menschlichen Gestaltungswillen, entdecken andere schon im Waldboden ein hochdifferenziertes System von Zusammenarbeit, Konkurrenz, Symbiose und Austausch von Informationen und Nährstoffen, das mindestens ebenso komplex ist wie eine Großstadt mit ihren Sendemasten und Verkehrsströmen und Rohren und Kabeln und Leitungen und Wissensspeichern und von dessen Funktionsweisen und Strategien man viel lernen kann.

Masaoka interessiert sich in ihren Werken für die Wege, die Informationen in der nichtmenschlichen Welt nehmen, für die Frage etwa, wie Pflanzen „Entscheidungen“ treffen, wohin sie wachsen, wie sie an Licht und Nährstoffe kommen. So finden sich Pflanzen mit Sensoren in der Ausstellung und verkabelte Erdteppiche, die nach dem Muster der Fibonacci-Reihe im Goldenen Schnitt angeordnet sind – Versuche der Kontaktaufnahme mit zwar nicht außerirdischen, aber doch außermenschlichen Intelligenzen. Mal wird ihr Körper zur Spielwiese von Bienen, deren Geräusche sie im doppelten Wortsinn aufnimmt und in ihren Kompositionen verwendet, mal fängt sie Geräusche, die von Pflanzen erzeugt werden, in den zum Trichter geformten Händen auf. Aber es wäre ein Fehler, ihr Werk auf dieses Interesse an den Klängen und Bewegungen der vegetabilen Welt zu reduzieren. In der Ausstellung finden sich auch eine dreidimensionale Partitur, eine würfelförmige Rahmenkonstruktion, die an Seilen hängt und sich bewegt; sie wirft Schatten auf eine weitere Figur, die auf einer Leinwand erscheint und sich zum Klang von Livemusik verändert. Jede Bewegung, jeder Ton, verändert so die Geometrie und das Verhältnis von Raum und Klang.

Außerdem ist eine Serie von Aufnahmen zu sehen, für die Masaoka, mit einem weißen Stofftuch verhüllt, in Rom an verschiedenen Orten posiert. Manchmal erinnert sie an eine Marmorstatue, der Hände und Kopf fehlen, manchmal an ein seltsames, durch die Stadt geisterndes Gespenst. Was man sieht, ist ein Wesen, das durch nichts zu identifizieren ist. Es hat kein erkennbares Geschlecht, keine Hautfarbe, keine Geschichte, keine Identität; es ist, obwohl es auf ihre Formen anspielt, das Gegenteil der weißen Marmorstatuen, die Götter oder Feldherren darstellen und so ein Bild von Macht und Herkunft liefern. Das weiche, vermummte Gespenst, das durch Rom geistert und ständig seine Form ändert, ist eine Anti-Statue, ein unbestimmter Körper: eine Zumutung für die, die wissen wollen, womit sie es zu tun haben, ein Versprechen für alle, die mit Édouard Glissant der Aufsplitterung der Gesellschaft in grimmig verfeindete Identitätsarchipele die Idee einer „Mondialité“ entgegensetzen.

Miya Masaoka. „Refuge in the Vegetal World“. Savvy Contemporary Berlin, bis zum 14. April