Kunst der „Encryption“ in Berlin :
Der Mensch mutiert im Technozän

Von Georg Imdahl
Lesezeit: 4 Min.
Mit KI spricht der Tod auch Latein: Trevor Paglens „Because Physcial Wounds Heal . . .(quia vulnera corpurlia curarentur)“, 2023.
Leben im Schatten der Datenspuren: Die Ausstellung „Poetik der Verschlüsselung“ in den Berliner Kunst-Werken fühlt unserer digitalen Zeit auf den Zahn.

Die Bilder stammen aus aller Welt, viele zeigen einen Alltag in trostlosen, abseitigen Augenblicken. Ein paar Halbstarke provozieren irgendwo im Niemandsland mit obszönen Gesten. Ein Fahrradfahrer ist an der Bordsteinkante gestürzt; ein Mann auf Krücken steht allein auf weiter Flur und bittet um Almosen. Eine junge Frau im Bikini möchte nicht fotografiert werden, sicherlich auch nicht ein hockender Jugendlicher, der sich ertappt sieht, wie er am Straßenrand seine Notdurft verrichtet.

Ein Bus irgendwo in Asien ist mit Passagieren überladen. Nur einige wenige Aufnahmen öffnen den Blick in unberührte Natur, andere sind einfach nur öde und nichtssagend. Manche Menschen auf den Allerweltsbildern strecken der fahrenden Kamera ihren entblößten Allerwertesten entgegen. Was früher einmal „Street Photography“ und „Straight Photography“ genannt wurde, wenn es sich um avancierte Fotografie handelte, ist bei Jon Rafman Straßenfotografie pur: Google Street View. 2009 hatte der Künstler begonnen, Bilder des Internetdienstes als Screenshots zu sammeln, seine aktualisierte „Videocabin“ von 2023 lässt den ozeanischen Datenspeicher erahnen, mit der das Aussehen der Welt abgespeichert ist.

Eigentlich leben wir im Technozän

Rafmans illusionsloser Realismus bespiegelt eine Gegenwart, die seit einigen Jahren als Technozän bezeichnet wird – angelehnt an das (auch nicht eben bestens beleumundete) Anthropozän als Zeitalter, in dem der Mensch maßgeblich Einfluss auf Natur und Umwelt nimmt. Was macht die zeitgenössische Kunst mit jenem „Technoscene“ und all seinem Wissen, seinen Informationen und Funktionsweisen, die der globalen Multitude weitestgehend verborgen bleiben?

Nadim Samman, britischer Leiter des Digital-Programms bei den Kunst-Werken Berlin, möchte ihr eine „Poetik der Verschlüsselung“ entlocken und versammelt Werke von vierzig Künstlerinnen und Künstlern, die die Hermetik planetarischer Technik umkreisen und als Herausforderung vorstellig machen, von der bis auf Weiteres ungewiss bleiben muss, ob der Homo sapiens der „ultimativen Datafizierung“ überhaupt gewachsen ist.

Unheimliches Video: Émilie Brout & Maxime Marions „IDLE (acts α and β)“ von 2023
Unheimliches Video: Émilie Brout & Maxime Marions „IDLE (acts α and β)“ von 202322,48 m²

Die Schau „Poetics of Encryption“ kleidet sich in Schwarz, gebärdet sich als dunkle Krypta und legt ihre Arbeiten in drei Registern ab: „Black Sites“, „Black Boxes“, „Black Holes“. Diese Ordnung klingt auf dem Papier plausibel, doch die Zuordnung der einzelnen Beiträge verstehe, wer will. So oder so kommt man auf seine Kosten – und erkennt in den Werken eher angestammte Ismen wieder. In einem Raster von LCD-Bildschirmen gibt Gillian Brett die Weiten des Orbit in der Optik des James-Webb-Weltraumteleskops wieder, bemalt die Oberflächen und verleiht ihnen den Look eines betörenden Impressionismus.

Eva und Franco Mattes installieren über die Stockwerke hinweg eine schwefelgelbe, minimalistische Kabeltrasse, deren Daten verborgen bleiben. Julian Char­rière verschmilzt künstliche Lava mit Elektroschrott (Platinen, Kabelwerk, Festplatten) zu amorphen Klumpen, sockelt sie unter Plexiglas auf wie archäologische Fundstücke im Geist einer zeitgenössischen Arte povera. In riesigen Piktogrammen mit eigens entworfenen Zeichen – im Stil von Otto Neurath, Gerd Arntz oder Otl Aicher – zeichnen Kate Crawford und Vladan Joler die Verflechtungen zwischen Macht und Technik seit dem fünfzehnten Jahrhundert nach.

Eine schier erschlagende Datensammlung, ganz und gar analog aufbereitet. Wenn hingegen Technologie als solche vorgeführt wird, altern die Werke relativ rasch, dann etwa, wenn Sebastian Schmieg in einer Arbeit von 2011 demonstriert, wie die Google-Funktion „Search by Image“ Bildersequenzen produziert. Oder wenn sich Nora Al-Badri in einem „Post-Truth Museum“ (von 2021 – 23) an Deep Fakes versucht und den Direktoren bedeutender europäischer Museen in Berlin, Paris und London Bekundungen zu umfassender Restitution in den Mund legt. Das müsste sich technisch doch überzeugender bewerkstelligen lassen.

Linker egoistischer Transhumanismus

Nicht minder als an „aufklärerischem Interesse“ bekennt sich die Schau zu „okkulter Träumerei“ und hat im Kellergewölbe ein dreißigminütiges Video von Charles Stankievech zu bieten, das die Wahrnehmung unweigerlich in einen Sog zieht. Der kanadische Künstler lässt Drohnen die Badlands in Alberta, die Salzwüste Utahs, isländische und japanische Vulkanlandschaften sowie einen Meteoritenkrater in der namibischen Wüste filmen und präsentiert die Aufnahmen spiegelsymmetrisch – daraus ergibt sich beim Blick auf die Mittelachse eine fortwährende Suggestion von Figuren, Gesichtern, Fratzen, unterlegt mit einem wummernden Sound von rauschendem Wasser. Ob okkult oder nicht, Stankievechs Stereo-Video wirkt wie eine Droge, die sofort süchtig macht. Und am Ende mit einer animierten Galaxie noch einen draufsetzt.

Dystopisch: Video Still aus „Scraper“ von Most Dismal Swamp, 2023
Dystopisch: Video Still aus „Scraper“ von Most Dismal Swamp, 2023Most Dismal Swamp

Oben in den Kunst-Werken tummeln sich kruder Aktivismus, flauschig-bunte Animationen, Fantasy, Trollhöhlen, Gaming-Kultur und Kapitalismuskritik sowie einiges an programmatischem Kitsch – Menschen mutieren zu ätherischen Figuren „zwischen Popkultur und lyrischem Drama“; erkundet wird das Begehren im Silicon Valley nach psychedelischen Substanzen und halluzinatorischen Erfahrungen. Immerhin seltsam, was Joshua Citarella an (ernst gemeinten) Polit-Parolen aus Internetplattformen fischt und auf Bannern druckt. Gefordert werden da ein „Anarcho-kapitalistischer voluntaristischer Pazifismus“ oder ein „Linker egoistischer Transhumanismus“.

Vollends krude ist eine Schaufensterpuppe mit einem Rucksack aus Gestell und Kordeln. Jener Backpack gehörte einst dem „Una-Bomber“ Ted Kaczynski, der in den Neunzigerjahren Terror gegen Industrie und neuzeitliche Technik gemacht hatte. Schließlich bizarr, dass einige seiner Hinterlassenschaften vom amerikanischen Staat (für die Opfer) versteigert wurden; ebenso obskur, dass sie jetzt als Kunst wieder auftauchen.

Bei aller schwarzen Poesie und schwarzer Magie heben sich die „Poetics of Encryption“ wohltuend von populistischen Vermittlungsversuchen digitaler Kunst ab, wie sie andernorts etwa durch Ausstellungen eines Refik Anadol gegeben sind. Eine einzige Arbeit fällt übrigens komplett aus dem Rahmen: Tilman Hornigs „Gläserne Laptops“ aus den Jahren 2013 bis 2023, akkurat aufgereiht auf einem Tisch. Solche Objekte waren favorisiert bei der neunten Berlin-Biennale von 2016, die so aufreizend mit dem Topos der Transparenz in der digitalen Konsumgesellschaft provozierte. Dagegen siedelt sich der Berliner Überblick lieber „im Schatten der Datenspuren“ an.

Poetics of Encryption: Art and the Technoscene. KW Institute for Contemporary Art, Berlin; bis 26. Mai. Das englischsprachige Buch zur Ausstellung von Nadim Samman kostet 23 Euro.