Kollwitz-Ausstellung im Städel :
Hinsehen statt wegsehen

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Auge in Auge mit dem Proletariat: Käthe Kollwitz’ großformatige „Zwei Studien einer Arbeiterfrau“, 1910

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Käthe Kollwitz ist die bekannteste deutsche Künstlerin. Doch wer schaut ihre Werke heute noch genau an? Eine große Schau im Frankfurter Städel will den Blick auf ihr Schaffen neu öffnen.

Schon ihre frühen Selbstporträts zeigen eine Künstlerin, die vor allem eines wollte: genau hinsehen. Käthe Kollwitz strebte danach, Menschen – auch sich selbst – in ihrer unverstellten Gestalt zu erfassen, als Individuen und soziale Wesen, bewegt in historischen wie gegenwärtigen Konflikten von zeitlosen Emotionen, Erfahrungen und Nöten. Als junge Frau an der Künstlerinnenschule in München fängt sie mit kurzem, präzisem Pinselstrich ihr eigenes fragendes Gesicht ein; nach der Hochzeit mit dem Berliner Kassenarzt Karl Kollwitz hält sie sich selbst in einer frühen Radierung als Schwangere mit einem Ausdruck der Erschöpfung fest. Eine ihrer letzten Kreidelithographien zeigt die Künstlerin als Greisin, sanft berührt von der Hand Todes.

Zwei Weltkriege und ein von Verlusten versehrtes Leben, das kurz vor der deutschen Kapitulation von 1945 endete, liegen zwischen den frühen und späten Blättern – und ein engagiertes Werk, das ebenso bekannt und anerkannt ist, wie es politisch und ideologisch vereinnahmt wurde. Schon im Kaiserreich war die Künstlerin auch wirtschaftlich erfolgreich. Zur Anerkennung in der Weimarer Republik kam die Berufung als erste Frau an die Akademie der Künste samt Professur. Auf die Verfemung in der NS-Diktatur folgten posthume Umarmungen unter verschiedenen Vorzeichen in Ost- wie Westdeutschland, der Bundesrepublik nach 1990 und weit darüber hinaus bis nach Amerika oder China.

Facettenreiche Vertreterin der Moderne

Kollwitz, die nie einer Partei angehörte, wurde als Feministin, Sozialistin oder Kommunistin gesehen, als Bild der Opfer bringenden Mutter, Staatskünstlerin, christlich-bürgerliches Idol oder Postergirl der Friedensbewegung. Es ist bemerkenswert, wer alles sich auf Käthe Kollwitz einigen konnte. Die einen haben ihre 1993 stark vergrößert in der Neuen Wache in Berlin als Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft installierte Pietà-Figur vor Augen, andere ihr in Holz geschnittenes Gedenkbild für den 1919 erschossenen Revolutionär Karl Liebknecht oder Bilder verelendeter Mütter mit ihren Kindern, die buchstäblich ins Plakative gesteigerte Aufrufe wie „Nieder mit dem Abtreibungsparagraphen!“ von 1924 zeigen.

Das Städel Museum will den durch so viel Zuspruch, der sich auch in Dutzenden nach der berühmtesten deutschen Künstlerin benannten Schulen, Straßen und Plätzen äußert, gelenkten Blick wieder unbefangener machen. Schlicht „Kollwitz“, ohne Untertitel, ohne den Vornamen, ist die umfassende Retrospektive mit mehr als 110 Arbeiten überschrieben, die erste in einem großen deutschen Museum seit Jahren. Rund sechs Dekaden hat das Städel seinen umfassenden Kollwitz-Bestand, den es großteils dem Frankfurter Sammler Helmut Goedeckemeyer verdankt, im Tresor ruhen lassen. Die Zeit war reif, ihn wieder hervorzuholen und mit Leihgaben – vor allem aus dem Käthe Kollwitz Museum Köln – ergänzt zu präsentieren. Welches Interesse Käthe Kollwitz’ Werk aktuell auch international neu entfacht, belegt das Museum of Modern Art in New York: Dort wird in knapp zwei Wochen gleichfalls eine Kollwitz-Schau eröffnet.

Die Frankfurter Ausstellung lässt ihre Besucher durch eine expressionistisch in­spi­rierte nachtblaue Raumarchitektur, die Dynamik statt Kabinettatmosphäre ausstrahlt, den gesamten Schaffensweg der Künstlerin abschreiten – mit dem Ziel, Käthe Kollwitz als facettenreiche Vertreterin der Moderne vorzustellen. Der erste richtungsweisende Karriereschritt der gebürtigen Königsbergerin war die Wendung weg von der Malerei, in der sie an Künstlerinnenschulen in München ausgebildet worden war, hin zur Grafik, einem Medium, das weniger prestigeträchtig, dafür umso wirkmächtiger war. Aus einer kleinen Anzahl erhaltener Gemälde, die Käthe Kollwitz schuf, sind zwei Max Liebermanns Einfluss verratende Biergartenbilder und ein Bildnis der Cousine Else Rupp ausgestellt. Hätte die Künstlerin diesen Pfad weiterverfolgt, sie wäre wohl in einer Sackgasse gelandet. Sobald sie Stift, Feder oder Radiernadel in die Hand nimmt, wird sie eine scharfe Beobachterin, die zu ausdrucksstarken Bildkompositionen findet.

Das Aufbegehren der Geknechteten

Vom Proletariat war Käthe Kollwitz zunächst ästhetisch fasziniert. Im vermeintlich Ungekünstelten der Arbeiterklasse sah sie das Authentische und eine wahrhaftige Art der Schönheit – ganz in Traditionslinien der Moderne. Der direkte Kontakt mit dem Milieu über die Praxis ihres Mannes nährte das sozialkritische Engagement der Künstlerin. Die Bildsprache dafür fand sie in der Literatur: Emile Zólas Bergarbeiterroman „Germinal“, vor allem aber Gerhart Hauptmanns realistisches Drama „Die Weber“ waren Initialzündungen für meisterhafte grafische Serien, die in theatral zugespitzter Dramaturgie das Aufbegehren Geknechteter inszenieren.

Wie sich Käthe Kollwitz’ Radierzyklen von motivisch verwandten des zehn Jahre älteren Max Klinger unterscheiden, zeichnet die Ausstellung pointiert nach: Die Künstlerin zielt ins Allgemeine, Stück für Stück löst sie sich von symbolistischen und allegorischen Elementen. Frauengestalten rücken bei ihr – die „Frauenkunst“ in ihren Aufzeichnungen ablehnte und von der eigenen Bisexualität schrieb – dominant ins Bild: symbolistisch angehaucht in Varianten des Sujets „Tod, Frau und Kind“, expressiv verdichtet in einem Holzschnitt von 1921/22 aus der Serie „Krieg“, in dem Mütter einen schützenden Ring um ihre Kinder bilden. Die Bildidee liegt auch der späteren Kleinplastik „Turm der Mütter“ zugrunde.

Wie ein Atelierbesuch bei der Künstlerin

Von ersten Skizzen über mehrere grafische Versuche bis zum endgültigen Bild und womöglich darüber hinaus zur plastischen Neuinterpretation: Solche Werkprozesse lassen sich in der Schau anhand von Bildern einer Bäuerin mit Sense aus der Folge „Bauernkrieg“ detailliert verfolgen – oder mit Blick auf den Holzschnitt eines trauernden Elternpaars, der im Kontext der jahrelangen Arbeit von Käthe Kollwitz an ihrer berühmten Skulpturengruppe zum Gedenken an ihren im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn steht.

Krieg, Tod, Elend: Die Kunst von Käthe Kollwitz will betroffen machen und tut es immer noch. Dass die Zeiten des Friedens in Europa vorbei sind, verleiht ihnen eine Dringlichkeit wie lange nicht mehr, und die soziale Frage ist im globalisierten Kapitalismus auch nicht gelöst. Die Städel-Schau spannt den Bogen weit, sie beleuchtet die technische Experimentierfreude der Grafikerin ebenso wie ihre politische Stoßrichtung und die Rezeptionsgeschichte. Erschöpfend kann auch sie nicht sein. Je näher man das Werk Käthe Kollwitz’ betrachtet, desto mehr gibt es – wieder – zu entdecken.

„Kollwitz“. Städel Museum, Frankfurt; bis zum 9. Juni. Der Katalog kostet 48 Euro.