Film „Amsel im Brombeerstrauch“ :
Jede und jeder braucht so einen Vogel

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Wie unter Bäumen am Gebirgsbach, nur ohne beides: Etero (Eka Chavleishvili, links) und Murman (Temiko Chichinadze)
Wie man mitten im Leben erst lebendig wird: Der Kinofilm „Amsel im Brombeerstrauch“ von Elene Naveriani folgt einer Frau vor den Wechseljahren beim Finden der Lust – und zeigt Sex, wie man ihn im Film selten gesehen hat.

Der Wert des Lebens zeigt sich zuweilen erst in der Begegnung mit dem Tod. Glücklich können sich jene nennen, die dem ungebetenen Gast nicht gleich die Hand reichen und hereinbitten, sondern ihm, wohlwissend, es wird nicht die letzte Begegnung sein, aus der Entfernung zunicken, während er, den Gruß erwidernd, einsieht, dass er noch nicht willkommen ist, und weiterzieht. Etero ist keine Frau, die irgendjemanden überschwänglich begrüßen würde. Schon ihr strenger Blick, der so wachsam ist, dass er kein Blinzeln wagt, spricht die Sprache der Außenseiter, während ihre Lippen zumeist stumm bleiben. Vielleicht kommt sie deshalb mit dem Leben davon, als sie von der Böschung in die Tiefe stürzt und für einen Moment dem Tod näher ist als dem Leben. Weil sie dem Tod mit dem gleichen Argwohn begegnet wie den Lebenden.

Eigentlich hatte Etero Brombeeren pflücken wollen, wie sie es schon so oft getan hat, als sie abgestürzt ist. Aber plötzlich ist alles anders. Das kleine georgische Kaff, in dem sie lebt, ist nicht mehr dasselbe, ihr Laden für Haushaltswaren ist nicht mehr derselbe, und vor allem die Männer sind nicht mehr dieselben. Nach 48 Jahren ohne Nähe packt es Etero, und sie hat Lust: auf die Männer, das Leben, die Entscheidung.

Man könnte auf die Idee kommen, die georgisch-schweizerische Filmproduktion „Amsel im Brombeerstrauch“ von Elene Naveriani, die von Eteros Erwachen erzählt, eine Coming-of-Age-Geschichte zu nennen, wäre die Protagonistin, gespielt von der 53 Jahre alten georgischen Theaterschauspielerin Eka Chavleishvili, nicht eine gestandene Frau. Sie ist eine, die zu stehen gelernt hat in ihrer anachronistischen Zwischenwelt: Denn während es in ihrem georgischen Dorf noch traditionell – also patriarchal – zugeht (die Männer betrinken sich miteinander, und die Frauen treffen sich zum Kaffeeklatsch, in Eteros Lädchen gibt es zwar mehrere Sorten Waschmittel, aber keine Kondome), ist die Welt außerhalb ihres Dorfes an ihnen vorbeigezogen (die jungen Menschen tragen buntes Haar und hören Punkrock, das Smartphone ist ihr Fenster in die Gegenwart, während ihre Herkunft das schmutzige Glas ist, das die Scheibe eintrübt).

Die alte Jungfer und das Lustprinzip

Dann also eine Emanzipationsgeschichte? Dass sich eine Frau an den Leitplanken, die ihr Leben begrenzen, reibt, überrascht nicht. Nur dass Etero auch vorher schon nicht hineingepasst hat: unverheiratet, stur, androgyn mit ihren kurzen, dunklen Locken und den Gummibotten, in denen ihre festen Waden stehen, und unwirschen Augenbrauen, die für sich genommen mehr sagen als Hunderte im Affekt dahergeplapperte Worte. Aber was soll das schon für eine Emanzipation sein, wenn das Ergebnis der Befreiung wieder nur das Nichthineinpassen ist? Und dennoch: Während die anderen Frauen im Dorf schließlich Etero von der drohenden Menopause vorjammern, treibt sie es mit dem verheirateten Waschmittellieferanten Murman (Temiko Chichinadze) auf dem Boden ihres Lagerraums. Ohne Kondom. Die gibt es schließlich nicht zu kaufen im Laden.

Naverianis Ansatz ist kein völlig neuer. Die Figur der alten Jungfer, die mit dem Blick von außen auf die Gesellschaft ihrem Inneren näher kommt als jeder Mittendrinstehende ist beinahe so alt wie das Geschichtenerzählen selbst. Sich ausgerechnet diese Figur zu nehmen und ihr das Lustprinzip einzuhauchen ist hingegen ungewöhnlich. Was hier und da an narrativer Spannung fehlt, setzt „Amsel im Brombeerstrauch“ bildsprachlich so gekonnt in Szene, dass es einem als Betrachter mitunter juckt, den Film zu pausieren, um einige Szenen noch ein wenig länger sehen zu können. Denn die bis ins Detail durchkomponierten Weitwinkel kommen Historiengemälden gleich, die in ihrer Farbgebung und Symmetrie an Wes-Anderson-Filme erinnern.

Symbole und doppelter Boden

Es gibt nichts, das nicht Symbol ist in Naverianis Film; oft mit doppeltem Boden. Sei es der Scheideweg, an dem Eteros Leben nach dem Sturz steht, umgesetzt als buchstäbliche Weggabelung, die den Zuschauer still anbrüllt: Freiheit ist aktives Entscheiden. Oder auch die Ab­nabelung von den patriarchalen Strukturen ihres Dorfes, die sich im Ab- und wieder Aufhängen der Bilder des verstorbenen Vaters und Bruders ausdrückt, an deren Stelle das Porträt der Mutter wandert. Mutig ist der Film dort, wo er zeigt, was andere auslassen: Zärtlichkeit zwischen gealterten Körpern, ohne den Schnitt zu setzen, sobald sie einander ausziehen. Naveriani zeigt Menschen, die weder schön noch hässlich sind, während sie miteinander schlafen. Auch der Blutfleck in Eteros Bett, der sie selbst so wenig kümmert, wie es die Regelmäßigkeit der Monatsblutung fordert, ist bei Naveriani nichts Aufsehenerregendes. „Amsel im Brombeerstrauch“ ist ein Loblied auf das Anderssein. Auch für Liebe ohne Kitsch findet Naveriani einen Ausdruck. Bei so viel Courage bleibt Ehrung nicht aus. Der Film wurde 2023 in Cannes uraufgeführt und hat den Hauptpreis beim Sarajevo Film Festival gewonnen.

Und schließlich ist da noch die Amsel: Sie verkörpert das Scharnier in Eteros Sein, den Übergang von einer Welt in die andere. Der Blick in die dunklen Augen des Vogels kurz vor dem Sturz öffnet die Sicht auf das Unbewusste. Sie singt ihr eine vergessene Wahrheit vor: dass es für das Leben ebenso wenig Gründe gibt wie für den Tod. Spätestens wenn Etero die Amsel ein zweites Mal singen hört, müssen wir uns als Zuschauer fragen, was das heißt.