„La chimera“ im Kino :
Arthur im Wunderland

Von Bert Rebhandl
Lesezeit: 3 Min.
Carol Duarte und Josh O’Connor in  „La chimera“.
Alice Rohrwachers faszinierender Film „La chimera“ erzählt von mythischen Mischwesen, Wünschelrutengängern und Sozialbanditen, die Seelen stehlen.

Bei dem verlassenen Bahnhofsgebäude in einem italienischen Dorf namens Riparbella ist nicht ganz klar: Gehört es niemandem („nessuno“) oder vielleicht eher doch allen („tutti“)? Die Schienen sind jedenfalls längst zugewachsen, eine Fahrdienstleistung wird sich hier nicht mehr so schnell etablieren.

Es sind die Achtzigerjahre, im Rest der Welt beginnt gerade der neoliberale Großangriff auf staatliche Strukturen. In Alice Rohrwachers „La chimera“ aber ist Rom, das Zentrum, die Exekutive, weit weg. Sie erzählt von einem Zwischenreich, wie auch der Titel schon nahelegt, der auf mythische Mischwesen verweist.

Die größte aller Schimären ist vielleicht sogar Italien selbst: eine Nation, die nie so richtig in der Gegenwart angekommen ist oder in der immer nur die verschärfte Gegenwart herrschte, die in den Fernsehstudios grell ausgeleuchtet und entsprechend geschminkt präsentiert wird.

Alice Rohrwacher erzählt von einem jungen Mann, der meistens nur „l’inglese“ genannt wird: Arthur Harrison (Josh O’Connor, in bester Erinnerung aus der Serie „The Crown“, wo er den jungen Prince Charles spielte). Warum „der Engländer“ in Italien in einem Zug sitzt, mit stinkenden Socken und offensichtlich in einem zerrütteten Zustand, hat vielleicht mit den Sehnsuchtsbildern von einer jungen Frau zu tun, mit denen „La chimera“ beginnt. Beniamina gehört nicht mehr zu den Lebenden, sie strahlt nur noch auf alten Filmaufnahmen.

Auf der Schwelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Nun kehrt Arthur in eine Welt zurück, in der man ihn dringend erwartet. Er verfügt nämlich über eine außergewöhnliche Gabe: „Du findest immer alles“, sagt jemand zu ihm. Im Speziellen findet er Dinge, die unter der Erde liegen. Arthur ist ein Wünschelrutengänger, spezialisiert auf etruskische Gräber, von deren Plünderung seine Freunde leben. Diese „tombaroli“ dürfen wir uns bei Rohrwacher als moderne Robin Hoods denken, als Sozialbanditen, die an den alten Traum von Bauern anschließen, auf ihrem Land „tesori“ zu finden, „Schätze“. Es gibt aber auch kritische Einwände. Denn bestehlen die Tombaroli nicht Seelen?

An der Schwelle zwischen Gegenwart und Ewigkeit wird alles zweideutig. Und „La chimera“ bewegt sich auf dieser Schwelle mit einer ungeheuren poetischen Souveränität. Alice Rohrwacher erweist sich hier als die legitime Erbin Fellinis und des Neorealismus von Rossellini zugleich. Sie fasst das ganze italienische Nachkriegskino zusammen und öffnet es auf neue Dimensionen.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
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Schon in „Land der Wunder“ („Le meraviglie“, 2014) tauchten die Etrusker auf, in einer kulturindustriellen Verwertung, aber doch kenntlich als ein Aspekt von lokaler Verwurzelung, von Volkskultur. In „Glücklich wie Lazzaro“ („Lazzaro felice“, 2018) wurde der Exodus einer weltfremden Gruppe von Leibeigenen zu einem Exempel italienischer Ungleichzeitigkeiten.

Und auch mit „La chimera“ lässt sie wieder Altertümer in die Gegenwart ragen, nun wird die Metapher der Archäologie zentral, aber auch die schonungslose Ausbeutung der Schätze durch eine mysteriöse Figur, die ausgerechnet den Namen Spartaco trägt. Spartakus kämpfte einst gegen Rom, der Held der Revolte ist nun aber zu einer Figur der Korruption geworden.

Alice Rohrwacher durchsetzt „La chimera“ mit Formen des volkstümlichen Erzählens, mit Bänkelsang und einer linken Armenbibel, in der in naiven Bildern die Grabräuber eine Legitimationserzählung bekommen. Die Vergangenheit ist in vielerlei Hinsicht eine Ressource. Man kann in sie aber auch hineingeraten wie in eine Höhle, aus deren Düsternis nur ein dünner Faden herausführt.

Wenn dieser reißt, wie das wehmütig vieldeutige Schlussbild zeigt, dann ist man vielleicht gerade einem Glück ganz nahe, das nicht mehr von dieser Welt ist. Das Glück dieser Welt aber beginnt am Bahnhof von Riparbella. Der wird nämlich von Frauen besetzt. Und gehört nun zwar nicht allen, aber allen Menschen guten Willens – und vielleicht auch guten Aussehens, wie es ein ungewaschener Engländer mitbringt.

Von Donnerstag an im Kino.