Leipziger Buchmesse :
„Ihre Lösung ist, Israel ins Meer zu treiben“

Von Jan Wiele, Leipzig
Lesezeit: 4 Min.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Leipzig
Der Bundespräsident hält auf der Leipziger Buchmesse eine in vielerlei Hinsicht optimistische Rede. Das Thema Ostdeutschland geht dabei zunächst in abermaligen Propalästina-Protesten unter. Dann wird es literarisch.

„Wir wollen hier etwas über Ostdeutschland hören“, sagt eine Frau im Publikum weiter vorne. Aber das wird auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse schwer. Am Vorababend ist der Bundeskanzler mehrfach von Aktivisten bei einer Rede unterbrochen worden, nun wird es der Bundespräsident. Er hat in der Alten Handelsbörse gerade aus Anne Rabes vor ein paar Monaten erschienenem ostdeutschem Mehrgenerationen-Roman „Die Möglichkeit von Glück“ zitiert und ist dabei, auch noch die Schriftsteller Ingo Schulze und Marcel Beyer zu begrüßen, als Zwischenrufe ihn abbrechen lassen.

Eine Frau direkt hinter uns ruft etwas über Genozid in Gaza in den Saal, über ermordete Kinder und deutsche Waffenlieferungen an Israel, die aufhören sollen. Frank-Walter Steinmeier stutzt, sagt dann: „Das ist ein ernstes Thema, über das wir in diesem Lande nicht nur während der Buchmesse diskutieren.“

Verständnisvoll und beschwichtigend

Die Frau wird von Sicherheitsleuten hinausgeleitet. Kaum setzt Steinmeier wieder an, kommt der nächste Zwischenruf von anderswo im Saal. So geht das etwa zwanzig Minuten. Die Hinausgeführten rufen dabei öfter „Ceasefire now“ oder „Free Palestine“. Andere Stimmen im Saal rufen „Ruhe jetzt“ und „Kindergarten!“.

Im Vergleich zur eher frontalen Pädagogik des hier einmal ziemlich deutlichen Olaf Scholz („Hör auf zu brüllen, Schluss“) wirkt Steinmeier zunächst verständnisvoller und beschwichtigender. Er grinst auch manchmal, wohl weil die nicht enden wollenden Unterbrechungen langsam absurd scheinen, sagt aber auch: „Wir erleben das jetzt fast bei jeder Veranstaltung.“ Später hält er den Protestrufen auch etwas entgegen, etwa: „Wir sind nicht einer Meinung, aber wir haben Sie gehört“, und einmal: „Ihre Lösung ist, Israel ins Meer zu treiben, das ist nicht unsere.“

Als er dann doch fortfahren kann mit seiner Rede, die Protestrufe sich weiter entfernen und irgendwann verstummen, wird klar, dass es sich um eine euphorische Rede handelt, die gleich mehrere Anlässe zur Feierlichkeit hat: 75 Jahre Grundgesetz, bald 35 Jahre friedliche Revolution in der DDR und die besondere Würdigung Leipzigs bei dieser sowie als Buch- und Messestadt. Letzteres wohl ganz gezielt in einer Gegenwart, in die dortige Buchmesse auf der Kippe steht.

Passt nicht in die Rede

Man denkt an die Messe vor einem Jahr, als Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ große Resonanz hatte und seine Thesen zur fortwährenden Ungerechtigkeit teils johlende Zustimmung im Publikum erhielten. Steinmeier hingegen hebt nun den Fortschritt in der Ost-West-Debatte hervor, in der man „ein ganzes Stück weiter“ sei: und zwar insbesondere aufgrund der Bücher junger ostdeutscher Autoren.

„Zu dieser neuen Generation gehören Sie, liebe Anne Rabe, zu ihr gehören auch Manja Präkels, Lukas Rietzschel, Matthias Jügler“, sagt Steinmeier. „Dazu kommen Autoren, die autobiographische Bücher schreiben. Oft Bücher voller Härte und Wut. Sie alle führen Grabungen durch. Grabungen in der jüngeren Geschichte, in der Geschichte der DDR, in den Wirren und im Schmerz des Umbruchs in den 1990er Jahren.“

Interessant, dass Steinmeier, wo er schon literarisch so konkret wird und Anne Rabes Roman zudem etwas klappentexthaft als „furios“ und „schonungslos erzählt“ rühmt, auf ein literarisches Thema des vergangenen Jahrs nicht eingeht: nämlich darauf, dass mit Charlotte Gneuß auch eine junge westdeutsche Autorin sich erzählerisch mit der DDR beschäftigt hat, was ja bislang ziemlich selten vorkommt. Die Auseinandersetzung um Gneuß‘ Roman „Gittersee“ und die Kritik daran durch Ingo Schulze hätte ja durchaus in einen kritischen Fortschrittsdiskurs gepasst, aber sie passt wohl an diesem Tag nicht in Steinmeiers Rede, die so wirkt, als wolle sie sich mit Details vielleicht doch nicht zu sehr aufhalten.

Mehr Fragen als Antworten

Sie soll Optimismus ausstrahlen, gleich auf mehreren Ebenen, ist auch eine präsidiale Rede zum Stand der Wiedervereinigung sowie ein staatliches Signal zur Wertschätzung der Leipziger Buchmesse – und das ist ja grundsätzlich auch zu begrüßen, während die Realität oft etwas weniger rosig wirkt als die Rede (in Stichworten: „Grundrechte feiern“, „neues Selbstbewusstsein“, moderner Industriestandort“, „Demokratie wehrhaft machen“).

Nur, dass dann im Anschluss auch noch die Schriftsteller Ingo Schulze, Anne Rabe und Marcel Beyer auf einem Podium über alle von Steinmeiers Themen und noch mehr diskutieren sollen: über Gerechtigkeit, Kapitalismus, Landflucht, Rechtsradikalität, den Volksbegriff, die Verfassung, Zivilcourage, Freiheit, also everything everywhere all at once: Das wirkt dann an diesem ohnehin schon strapaziösen Abend wirklich etwas viel.

Und es bleibt, bei allem Verständnis für Anekdoten-Empirie, einfach zu disparat, auch wenn es durchaus für sich interessant ist, wie Ingo Schulze sich gegen die Rolle des pessimistischen Ost-Erklärers sträubt, warum der in Baden-Württemberg geborene, 1996 nach Dresden gezogene Marcel Beyer dort trotz mancher Widrigkeiten bleiben will, und wie die 1986 in Wismar geborene Anne Rabe davon erzählt, schon vor langer Zeit „mit 30 Leuten an der B 96“ gegen Rechtsradikalismus demonstriert zu haben.

Aber schon die von Steinmeier (und am Vorabend auch von der Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs) aufgerufenen Zusammenhänge zwischen den Leipziger Demonstrationen 1989 und den jüngsten Demonstrationen gegen Rechtsradikalismus werfen so viele Fragen auf, dass man damit mühelos einen Abend füllen könnte. Und vielleicht zu dem Schluss kommt, dass solche sehr gesuchten Vergleiche nicht hilfreich sind, auch wenn sie Sonntagsreden etwas Gutes bewirken sollen.