Schauspielhaus Zürich :
Wer scheut die Verwandlung?

Von Salomé Meier
Lesezeit: 4 Min.
Provokative Sache: Niels Bormann, Thomas Kürstner, Sebastian Vogel und Patrycia Ziólkowska in Zürich
Explosive Mischung: Nicolas Stemann inszeniert zum Abschied seiner Züricher Intendanz Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ und bezieht alles auf sein eigenes Schicksal.

Sie sind nicht von Anfang an da. Das hätte man doch gemerkt. Aber auf einmal stehen sie im Foyer. Die zwei Feuerwehrmänner, in voller Montur, mit Helm und ­heruntergelassener Schutzscheibe. Von der Treppe aus blicken sie, leicht erhöht, ins noch immer hereinströmende Publikum. Als lauere hier, mitten unter uns, eine Gefahr, von der wir noch nichts ahnen. Hin und wieder nuschelt einer der beiden etwas in sein Funkgerät. Dann ertönt ein kurzer Piepton, gefolgt von einem schnappenden Geräusch. Das Stück hat also bereits begonnen.

Im Theaterraum laufen der Haarwasserfabrikant Gottlieb Biedermann und sein Dienstmädchen Anna bereits geschäftig umher. Erst bei genauerem Hinsehen erweist sich der Lappen, mit dem Anna den Bühnenboden wischt, als Schweizer Flagge. Was wir heute sehen werden, so die unmissverständliche Botschaft, wird provokativ.

Fast übergangslos zieht sich die biedere altrosa Tapete mit den silbernen Wandkandelabern in den Bühnenraum, in deren Mitte, wie ein Mini-Orchester, die Bühnenmusik (Sebastian Vogel und Thomas Kürstner) thront. Wäre da nicht ein zweiter Theaterrahmen gleich hinter dem ersten, der zusammen mit der im selben Tapetenmuster gehaltenen Treppe eine monströse Spiegelflucht bildet und wie das Orakel zu ­Delphi zu mahnen scheint: „Erkenne dich selbst, Zürich!“

Appell an die Menschlichkeit

„Hat jemand Feuer?“ – Biedermanns Frage ist ans Publikum gerichtet. Mit seiner grauen Anzugshose, der markanten Hornbrille und dem nach hinten gegeltem Haar seinem Erfinder nicht unähnlich, hält er sich genüsslich die Zigarre unter die Nase. „Achso, das darf man ja gar nicht mehr. Nichts mehr darf man! Verdammte Brandstifter. Aufhängen sollte man sie.“ Das ist, wie 95 Prozent des Bühnentexts, Max Frisch, aber es ist eben auch eine Anspielung auf den von Politik und Medien wiederholt geäußerten Vorwurf, Stemann/von Blomberg seien als Intendanten gescheitert, weil ihre Stücke zu „woke“ für das Mehrheitspublikum seien.

Ironischerweise schwingt Biedermann gleich selbst einen Benzinkanister neben sich her, als handle es sich dabei lediglich um einen Dienstkoffer mit Haarwasser und nicht um jenes allzu leicht entzündliche Gemisch, das potentiell ein ganzes (Theater-)Haus niederbrennen könnte. Prompt lockt er damit die beiden Brandstifter ins Haus, über die die Zeitungen derzeit unablässig berichten: Sie würden sich unter falschem Vorwand in Dachstöcken fremder Menschen einnisten und ein Haus nach dem anderen niederbrennen.

Als kurz darauf ein obdachloser Herr auf der Schwelle der Biedermanns steht und an die Menschlichkeit des Hausherrn appelliert, gelingt es dem Dienstmädchen Anna (Niels Bormann) nicht, wie befohlen, den Fremden abzuwimmeln, denn plötzlich spricht sie selbst mit beunruhigend tiefer Stimme und scharfem, deutschem Akzent: „Schmitz ist mein Name.“ Und auch Biedermanns herzkranke Frau Babette, die den fremden Köhler-Sohn zuerst nicht schnell genug aus ihrem Haus gewusst haben will, wird in Stemanns Inszenierung von ein und demselben Kay Kysela gespielt, der auch Schmitz’ Brandstifter-Kumpanen Willi Eisenring spielt. Das ist eine geschickte Doppelrollen­besetzung: Denn das Böse ist, wie das Fremde, eben nicht irgendwo da draußen, sondern immer schon (in uns) drin. Eben deshalb lässt es sich auch nicht ausschließen.

Bösartiges Spiel im Spiel

Als Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ 1958 am Pfauen uraufgeführt wurde, hat die Öffentlichkeit gerade das nicht verstanden: Statt als Farce über bürgerliche Heuchelei wurde das Stück als Aufruf gefasst, keine Fremden ins Haus zu lassen. Derselben Mischung aus gespielter Offenheit und verdeckter Fremdenfeindlichkeit, so suggeriert Stemanns Inszenierung selbstbewusst, sei auch er zum Opfer gefallen. Zwar ist Schmitz’ Lamento gegenüber Biedermann: „Sie möchten mich usschaffe, weil ich Ausländer bin“ eine witzige Hyperbel; die Kritik am politischen Rechtsrutsch der Schweiz ist allerdings ernst. Nicht zuletzt ist diese Inszenierung jedoch eine Kritik am geistigen und künstlerischen Konservatismus der Zürcherinnen und ­Zürcher, an der zuletzt schon der Intendant Christoph Marthaler gescheitert war. Und so hallt auch bei Stemann Frischs dreifach wiederholter Chor nach: „Der die Verwandlung scheut, mehr als das Unheil. Was kann er tun wider das Unheil?“

Der Schluss nimmt in Stemanns Inszenierung eine spannende Wendung. Während im Original von 1958 die ganze Stadt brennt, womit die Anarchie vollends über das Bürgertum siegt, lässt Stemann in seiner Inszenierung nur das Schauspielhaus niederbrennen. Das mag zum einen das Ende der progressiven Kunst bedeuten, zum anderen aber bedeutet es den Sieg der Kapitalisten: Denn als nun die beiden Feuerwehrmänner auf die Bühne kommen und, statt das Feuer zu löschen, ihre Kluft ablegen, unter der zwei eiskalte Anzugträger (Sebastian Rudolph und Daniel Lommatzsch) hervorkommen, dämmert uns langsam, was das ganze Theater soll. In einer sensationsbewussten Live-Übertragung berichten sie vom Foyer aus vom „warmen Abriss“ des Schauspielhauses, der Platz schaffen solle für die „Kunst- und Parkmeile 2024“, auf der in Zukunft 38 000 Autos, darunter zwei Drittel für SUVs mit Überlänge Platz finden sollen.

Das ist bösartiges Spiel im Spiel und bei aller politischen Brisanz vor allem immer wieder eines: sehr lustig. Das größte Lob aber gebührt den Schauspielerinnen und Schauspielern: Patrycia Ziólkowska, die als zunächst selbstüberzeugter und machiavellistischer Biedermann, den im Laufe des Stücks immer mehr die Angst packt, eine wirklich entfesselte Performance hinlegt, Kay Kysela, der unheimlich zwischen bittersüßer Gattin und sinistrem Pyromane flackert, und Niels Bormann, der als verkappter Schmitz im Kostüm des Dienstmädchens Anna den Figuren mehr subversives Potential verleiht als Frisch beiden Brandstiftern zusammen.

Ein insgesamt gelungener Ausstand des umstrittenen Intendanten-Duos also. Und ein bisschen Abschiedsschmerz liegt sogar auch in der Luft.