Komponist Siegfried Thiele :
Gelebte Integrität

Von Gerald Felber
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Siegfried Thiele
Mit seiner Musik eröffnete Kurt Masur das Neue Gewandhaus in Leipzig. Als Anthroposoph und Musiker blieb Siegfried Thiele auch in der DDR unkorrumpierbar. Jetzt wird der Komponist 90 Jahre alt.

Vielen, die ihm bis dahin nicht begegnet waren, ist Siegfried Thieles Name im Herbst 1981 zu Ohren gekommen. Da erklangen seine „Gesänge an die Sonne“ als erstes Werk im frisch erbauten Neuen Gewandhaus zu Leipzig – vor Beethovens Neunter. Kurt Masur, der Auftraggeber, hatte gemeinsam mit dem Komponisten einiges Vorfeldgerangel um die Textauswahl durchgestanden: selbst Goethe, Schiller und Hölderlin bedurften für diesen Staatsakt der ideologischen Gegenprüfung und Absegnung. Korrumpieren ließen sich durch diese Behandlung weder Werkschöpfer noch Dirigent, und das gegenseitige Wissen darum mag sie auch zueinander gebracht haben.

Thiele, in Chemnitz geboren und musikalisch sozialisiert, dann seit Aufnahme seines Studiums 1953 Leipziger geworden, war weder durch Moden noch ästhetische Vorgaben zu beeindrucken. Er stellte sich beharrlich in eine Linie strengen, rational-analytischen und deklamatorisch geprägten Komponierens von feinstimmig-transparenter Farbigkeit, die in der Messestadt schon seit Max Regers Zeiten immer als starke Unterströmung mitlief und unter den musikalischen Stadtheiligen eher auf Bach denn auf Wagner hörte, ohne sich dabei dogmatisch einengen zu lassen. In Thieles Falle geht der schöpferisch anverwandelte Traditionsfundus sogar noch weiter zurück: über Schütz und Gesualdo bis zu Guillaume de Machaut, dem er 1978 eine musikalische Hommage widmete.

Orff, Bartók und Lutosławski gehören zu den neueren Impulsgebern, die sich der Künstler, auch wenn sie in seinen prägenden DDR-Entwicklungsjahren zumindest phasen- und werkgruppenweise umstritten waren, ebenso wenig madig machen ließ wie sein Bekenntnis zur ­anthroposophisch geprägten Christengemeinschaft, deren Weihehandlungen er seit dem Ende der Fünfzigerjahre einen beträchtlichen Teil seiner kompositorischen Bemühungen widmet.

Es waren nicht zuletzt seine moralische wie künstlerische Integrität, die ihm ab 1990 den Ruf zum ersten Nachwende-Rektor „seiner“ Leipziger Hochschule für Musik und Theater, an der er selbst ausgebildet worden war und schon lange lehrte, einbrachte. Vordem hatte es bis zum 50. Lebensjahr gedauert, ehe er überhaupt eine Professur erhielt; noch als Schöpfer der Gewandhaus-Sonnengesänge war der keineswegs mehr junge Komponist lediglich Dozent. Erleichtert dürfte ihm dieses schwergängige Sich-Voranarbeiten immerhin dadurch geworden sein, dass er tatsächlich ein leidenschaftlicher, großzügiger und inspirierender Analytiker und Lehrer für die folgenden Generationen war.

Steffen Schleiermacher, einer seiner Schüler, nennt ihn „prägend durch Toleranz und Geduld“, Bernd Franke, ein weiterer, beschwört „eine vielleicht altmodisch wirkende Berufsehre“, die, ganzheitlich denkend, nicht nur Fragen an das Gegenüber, sondern immer auch an sich selbst zu stellen vermag. Und, so könnte man weiter ergänzen, auch an das wundersame Wesen der Musik selbst: „Töne befragen – ihr Sosein erkunden“ hat Siegfried Thiele selbst einmal als eines der Leitmotive seines Schaffens deklariert. Heute wird er neunzig Jahre alt.