Oper in Genf :
Auch du, Friedenstaube, bist unsere Schwester

Von Christiane Wiesenfeldt, Genf
Lesezeit: 4 Min.
Kraftvoll und warm: Robin Adams als heiliger Franziskus
Olivier Messiaens kolossale Ritual-Oper „Saint François d’Assise“ wird am Grand Théatre in Genf durch die Regie von Abdel Abdessemed als Werk franziskanischer Innerlichkeit ernst genommen.

In Hörweite zum Grand Théâtre in Genf stehen die vier Schweizer Reformatoren des gleichnamigen Denkmals. Übergroß, mit steinernen Gesichtern, eingehüllt in lange Mäntel, hören sie geflissentlich weg. Sie ignorieren, was an altgläubiger, hochsinnlicher Musik über Stunden hinweg aus dem Opernhaus strömt. Musik mögen sie nicht, sie lenkt nur ab von Gottes Wort. Olivier Messiaen, dessen einzige Oper „Saint François d’Assise“ an dem Abend erklingt, hätte sofort widersprochen: „Falsch! Musik ist Gottes Wort, gesungen von den Engeln im Himmel und den Vögeln auf Erden. Man muss nur hinhören, Geduld haben. Und offene Herzen.“

Weghören geht auch gar nicht bei diesem Klang gewordenen katholischen Ritualkoloss. Ein riesiges Orchester mit Windmaschine, Donnerblech und Ondes Martenot wünscht sich Messiaen für sein Opernoratorium in acht Bildern, dazu fünfhundert Sänger, in Genf sind es weniger. Fast viereinhalb Stunden Spielzeit verlangen Sitzfleisch, mentales Knien, wenn die Metapher gestattet ist.

Bis der mittelalterliche Franz seine christologischen Stationen durchlebt hat, Kranken begegnet, sie heilt, den Dialog mit Engeln und Vögeln sucht, die Wundmale Christi erhält und erlöst das Zeitliche segnet, ist Compassio unerlässlich, das Mitleiden, bis hin, wer kann, zur Identifikation mit Christus. Ein für Messiaen gelungenes katholisches Leben vollzieht sich nur in einem Nahverhältnis zum Gottessohn. Das wiederum geht nur entschleunigt. Ausdauer ist gefordert, etwa das Aushalten von endlosen, gebetskettenartigen Aufzählungen von Vogelarten und deren Gesang. Denn alle Vögel sind Brüder, im Glauben wie in der Musik.

Die Genfer Inszenierung des französisch-algerischen Künstlers Adel Abdessemed ließ vieles erwarten, Provokatives oder intellektuell Halbgares. Gut, einmal muss eine nackte Frau über die Bühne laufen, immerhin hat die Oper keine Gewalt, keinen Sex und keinen Witz zu bieten. Sicher, die Mönche laufen in Müll gekleidet herum, der heilige Franz wird mit seinen beiden Plastiktüten sogar beerdigt. Die hausgroße angeschossene Friedenstaube vermittelt sich ebenso wenig wie das gen Himmel fliegende Dromedar. Ein wenig nervig vielleicht das knallbunte Mediengewitter von Vogelbildern. Aber auch dieses Irritationspotential bleibt letztlich erfreulich kurzlebig.

Abdessemed lässt seine Darsteller nämlich rein bildsprachlich handeln – sie sitzen, stehen, schauen nachdenklich und deklamieren ruhig, sie zeigen kaum Mimik und Gestik. Eine Inszenierung also, in der nichts durch die Gegend geworfen, nicht herumgebrüllt oder sich geprügelt wird, keine Ordnungshüter aufmarschieren oder Nacktheit ständig ausgestellt wird. Stattdessen sehen wir Porträts des heiligen Franz und des Verkünders von Fra Angelico, den Messiaen als Vorbild seines Engels sah, wir sehen Klostermauern, Kirchenruinen und dekorationsarme Hinterhöfe. Abdessemeds eher minimalistische Inszenierung fordert heraus, die franziskanische Innerlichkeit ernst zu nehmen und damit auch in uns selbst hineinzuschauen. Das fällt schwer in einer Welt, wo immer alles bunt und laut und sofort sein muss. Es ist eine Herausforderung, die erwartungsgemäß nicht alle Zuschauer bis zum Ende durchhalten.

Verblüffend ist, dass die Regie damit weder hinter die Musik zurücktritt noch sie dominiert, sondern sie auf Augenhöhe begleitet. Das sieht man selten. Denn Messiaens Musik entwickelt sich nicht, sie entfaltet keine dramaturgische Valenz. Konstant motivisch an ihre Figuren oder Symbole wie das Kreuz gebunden, wirkt sie zeitenthoben, beinahe gleichnishaft. Wenn Robin Adams als Saint François kraftvoll, warm und rau zugleich, mit enormer Ausdauer, seine innere Wandlung besingt, braucht er keine Gebärden, sondern zieht seine Stärke gleichsam aus seinem Inneren.

Reformationsdenkmal in Genf
Reformationsdenkmal in GenfChristiane Wiesenfeldt

Seine Glaubensbrüder schürfen ebenso Energie aus der Achtsamkeit: Kartal Karagedik mimt als Frère Léon tonsicher den ewigen Zweifler, Jason Bridges singt den Frère Massée wunderbar lyrisch, Omar Mancini als Frère Élie klingt grundsätzlich entspannt. William Meinert als Frère Bernard ragt stimmlich heraus, er hängt als jüngster Mönch am meisten an seinem sterbenden Pater, seine Trauer ist echt. Aleš Briscein singt Le Lépreux bewegt, gesellt sich dann aber als Geheilter zu den anderen in die Ruhezone. Einzig der Engel, zartschmelzend ätherisch und sängerisch nicht von dieser Welt dargeboten von Claire de Sévigné, darf ein wenig herumtänzeln und mit den Flügeln wedeln.

Die himmlische Musik steht als einzige auf tonalen Füßen, während alles andere, die irdischen Anfechtungen oder auch die Vogelmusik, eine lebensbunte Mischung aus seriellen, atonalen und freitonalen Sequenzen bildet. Die Leistungsträger des Abends sind neben den Sängern das Orchestre de la Suisse Romande mit Jonathan Nott und der Chor unter der Leitung von Mark Biggins. Die zwei riesigen Ensembles agieren auf der hinteren Bühne, sensationell sensibel eingetaktet in ein musikalisches Arrangement, in dem alles von Multimetrik bis Dreiklangsharmonik, vom x-fachen Pianissimo, nahe am Geräusch, bis hin zum brillanten Fortissimo gefordert ist.

Mit der Wendung zu einer linearen und deklamatorischen Textur der Musik im Spätwerk befindet sich der Avantgardist Messiaen in guter Gesellschaft vormoderner Komponisten, die in ihren Altersmusiken die choralhafte Schlichtheit suchen und auf Transparenz, Homophonie und Textverständlichkeit setzen. Das versöhnliche C-Dur im achten Schlussbild, das den Responsorialgesang zum ersehnten Sterben grundiert, wirkt nicht nur musikhistorisch wie das verlorene Paradies. Im längsten Schlusston der Musikgeschichte ist alles ganz bei Gott. Dazu kann man, mit etwas Phantasie, Théo­dore de Bèze, den zweiten steinernen Reformator von rechts, milde lächeln sehen.