Kinderbuch über die Flucht :
Die Welt mit anderen Augen sehen

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Von einem Kind gemaltes Bild  im Januar 2015 in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin
Warum fliehen Menschen? Und überfremden Flüchtlinge die deutsche Kultur? In ihrem Kinderbuch „Wir mussten flüchten“ geben Christoph Drösser und Nora Coenenberg sachliche Antworten auf politische Fragen.

Seit ein paar Jahren erscheinen sehr viele Kinder- und Jugendbücher, die Geschichten von Menschen auf der Flucht erzählen. Das ist naheliegend in Zeiten, in denen wahrscheinlich viele Kinder in Deutschland bereits erlebt haben, wie ein „Neuer“ in die Klasse kam, vielleicht noch scheu und stumm, ohne Sprachkenntnisse, dafür mit viel Angst im Gepäck. Misst man es an der Zahl der Bücher zum Thema, scheint das Informationsbedürfnis jedenfalls groß gewesen zu sein, und es hält an: Gerade erst ist mit „Wir mussten flüchten“ wieder ein Titel erschienen, allerdings einer, der sich von den häufig gelesenen, in ihrer Empathie zwar ehrenwerten, zuweilen aber auch betulich wirkenden Veröffentlichungen unterscheidet.

Der frühere Journalist Christoph Drösser und die Illustratorin Nora Coe­nenberg beleuchten das Thema aus einer sachlichen Perspektive. Sie informieren und erzählen abwechselnd, aber auch dort, wo sie erzählen, orientieren sie sich an wahren Geschichten beispielsweise von Kindern, die wie Amena aus Syrien oder Nyaboth aus Südsudan nach Deutschland geflohen sind. Deren Geschichten, so ist dem zweiseitigen Quellenverzeichnis zu entnehmen, stammen aus Berichten internationaler Flüchtlingsorganisationen und sind, eben weil sie echt sind, weit spannender als manche ihrer fiktionalisierten Pendants.

Klug zusammengesetzt ist auch das zweite Kapitel des Buches, das sich auf wahre Lebenswege beruft, weil es dem Schrecken die Spitze nimmt und darlegt, wie eine Flucht gelingen kann. „Berühmte Geflüchtete“ heißt es und erinnert daran, dass Freddy Mercury als Kind aus Sansibar floh, dass die Sängerin M. I. A. aus Sri Lanka stammt und der Google-Mitgründer Sergey Brin einst in der Sowjetunion geboren wurde.

Erhellend und effektvoll

Der größte Teil des Buches aber, das neben einer Einleitung sieben Kapitel mit je zahlreichen Unterkapiteln enthält, widmet sich Zahlen und Fakten, juristischen Begriffen und politischen Debatten. Was bedeutet Flucht? Warum fliehen Menschen? Wer nimmt die meisten Geflüchteten auf? Das sind nur ein paar der Fragen, die Drösser sachlich beantwortet und hier und da in Beziehung zur Lebenswelt seiner Leser setzt. Dabei erweist sich das Zusammenspiel mit den Illustrationen von Nora Coenenberg als erhellend und effektvoll.

Die beiden, die vor drei Jahren für ihr gemeinsames Buch über „100 Kinder“ in der Kategorie Sachbuch mit dem Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet worden sind, setzen immer wieder solche Informationen bildlich in Szene, die gute Anknüpfungspunkte für junge Leser ohne Fluchterfahrung bieten und helfen, die abstrakten Informationen zu verstehen: „Von zwanzig Kindern in Deutschland haben acht eine Migrationsgeschichte, sechs von ihnen haben die deutsche Staatsangehörigkeit“, lautet eine dieser Informationen, die Nora Coenenberg mit einer Schulklasse illustriert, die aus zwanzig Kindern besteht, von denen nur die acht Kinder mit Migrationsgeschichte einen Namen bekommen.

Christoph Drösser, Nora Coenenberg: „Wir mussten flüchten“. Gabriel Verlag, Stuttgart 2023. 112 S., Abb., geb., 15,– €. Ab 8 J.
Christoph Drösser, Nora Coenenberg: „Wir mussten flüchten“. Gabriel Verlag, Stuttgart 2023. 112 S., Abb., geb., 15,– €. Ab 8 J.Gabriel Verlag

Unvermeidlich bei diesem Thema ist der „Realitätscheck“. Christoph Drösser klopft verbreitete Meinungen auf ihren Wahrheitsgehalt ab, setzt Zahlen ins Verhältnis, vergleicht die Lage in Deutschland mit der Lage anderer Länder, erklärt, wie demographischer Wandel und Fachkräftemangel zueinander in Beziehung stehen und kontert manches Vorurteil mit einfachen Gegenfragen. Flüchtlinge überfremden die deutsche Kultur? „Was für ein Fast Food isst du am liebsten? Pizza und Burger? Und was für Musik hörst du? Amerikanischen HipHop oder BTS? Und woher stammt deine Lieblings-Fernsehserie?“

Drössers Buch behandelt Fragen über Religion und Kriminalität, Inte­gration und Resettlement. Es gibt Kindern einfache Tipps, wie sie mit anderen Kindern ohne Deutschkenntnisse auf dem Pausenhof in Kontakt treten können und listet Organisationen auf, die sie unterstützen können, um selbst zu helfen. Es setzt diffusen Ängsten ein profundes Wissen gegenüber und stellt abstrakten Informationen die Klarheit von Nora Coenenbergs Illus­trationen zur Seite. Die Perspektive ist wohlwollend und ermutigend. Naiv ist sie nicht.

Christoph Drösser, Nora Coenenberg: „Wir mussten flüchten“. Gabriel Verlag, Stuttgart 2023. 112 S., Abb., geb., 15,– €. Ab 8 J.