Tomi-Ungerer-Bilderbuch :
Geht’s dem Reim auf den Leim?

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Die Namen der Hauptfiguren sind noch sprechend, aber nicht mehr reimend wie im Original: Aus Mr. Tall und Mr. Small wurden Herr Groß und Herr Klein.
Nach fast sechzig Jahren wird das von Tomi Ungerer illustrierte Bilderbuch „Mr. Tall and Mr. Small“ ins Deutsche übersetzt: als „Herr Groß und Herr Klein“. Der Grund fürs lange Warten liegt im Text.

Vor fünf Jahren starb mit Tomi Ungerer einer der größten Bilderbuchzeichner – man denke nur an „Die drei Räuber“, „Der Mondmann“ oder „Kein Kuss für Mutter“, alle aus den Sechziger- und Siebzigerjahren und seitdem Kinderbuchklassiker – von Ungerers Erwachsenenbilderbüchern, auf die er sich danach über­wiegend verlegte, schweigen wir hier, denn diese Zeitungsseite ist nicht der rechte Ort für Meisterwerke wie „The Party“, „Das Kamasutra der Frösche“ oder „Schutzengel der Hölle“. In den letzten zwanzig Jahren seines langen Lebens kehrte er dann wieder regelmäßig zu Publikationen für Kinder zurück. Nennen wir einige der schönsten: „Otto“, „Flix“, oder „Die blaue Wolke“. Alle wie auch schon die früheren Beispiele von Ungerer nicht nur illustriert, sondern auch selbst geschrieben. Er vermittelte besonders im Alter nicht nur Charme und Schabernack eines kleinen Jungen, sondern besaß auch ein entsprechendes Einfühlungsvermögen.

Man sollte meinen, bei solchem Können und derartiger Popularität eines ­Autors wäre jedes seiner Bilderbücher greifbar, zumal angesichts der Publikationspraxis von Ungerers Hausverlag Diogenes, der schon zu dessen Lebzeiten die Klassiker immer wieder neu auflegte. Doch nun ist tatsächlich ein bislang hierzulande unbekanntes Bilderbuch von ­Tomi Ungerer herausgekommen, das eigent­lich alt ist, nämlich erschienen bereits 1966 in den Ver­einigten Staaten, wo der Zeichner damals lebte, mithin mitten in seiner besten Zeit. Doch es war damals nicht ins Deutsche übersetzt worden. Das mag einen Grund darin haben, dass Ungerer hier keine eigene Geschichte illu­striert hatte, sondern eine Versdichtung der heute achtundneunzigjährigen amerikanischen Kinderbuchautorin Barbara Brenner: „Mr. Tall and Mr. Small“, die Geschichte von Freundschaft und Rivalität zwischen einer Giraffe und einer Maus. Und ihrer gemeinsamen Abenteuer.

Der englische Titel verrät schon, an welchem Vorbild sich Brenner bei der Abfassung ihrer gereimten Geschichte orientierte: an Theodore Geisel alias Dr. Seuss, dem erfolgreichsten amerikanischen Kinderbuchautor überhaupt. Er hatte nach dem Zweiten Weltkrieg das Prinzip der „Beginner Books“ entwickelt. In diesen Bilderbüchern für Leseanfänger wurden durch Reim und Rhythmus (von der mit vielen einsilbigen Wörtern aufwartenden englischen Sprache begünstigt) einprägsame Geschichten erzählt. Das bekannteste Beispiel, millionenfach verkauft, ist „The Cat in the Hat“ von 1957. Brenners Text textet im Original streng nach diesem Seuss-Rezept.

Verzweifelte Übersetzer als Qualitätsmerkmal

Und das mag ein weiterer Grund dafür sein, warum „Herr Groß und Herr Klein“, wie der Band nun auf Deutsch heißt, so lange nicht übersetzt wurde: Das Rezept ist mangels Einsilbern und deren im Englischen verbreiteter lautmalerischer Ähnlichkeit nicht einfach in andere Sprachen umsetzbar – schon beim Titel konnte ja der ursprüngliche Reim nicht bewahrt werden. Und zitieren wir noch die ersten vier Zeilen des Buchs: „Giraffe was tannish. / Mouse was gray. / Mouse ­liked night. / Giraffe liked day.“ Anna Cramer-Klett, der die undankbare Aufgabe des Eindeutschens oblag, bietet diese Version an: „Giraffe war bräunlich, / Maus war grau. / Maus liebte die Nacht, / Giraffe den Morgentau.“ Keine Rede mehr vom Stakkato des Originals, das dessen Verse so einprägsam und deshalb fürs Lesenlernen dienlich macht.

Tomi Ungerer, Barbara Brenner: „Herr Groß und Herr Klein“. Aus dem amerikanischen Englisch von Anna Cramer-Klett. Diogenes Verlag, Zürich 2023. 32 S., Abb., geb., 20,– €. Ab 3 J.
Tomi Ungerer, Barbara Brenner: „Herr Groß und Herr Klein“. Aus dem amerikanischen Englisch von Anna Cramer-Klett. Diogenes Verlag, Zürich 2023. 32 S., Abb., geb., 20,– €. Ab 3 J.Diogenes

So kommt es dann zu Reimgebilden wie „Sie zankten und zeterten / die längste Zeit, / so verbissen in ihren Streit, / dass keiner ahnte die Gefahr: / Ein Jäger, der in der Nähe war ...“ Wo es ursprünglich heißt: „And so they argued / Heatedly / From noon until / Ten after three.“ Der Jäger taucht auf Englisch erst ein halbes Dutzend Zeilen später auf und setzt versehentlich den Wald in Flammen, was bei Brenner in eine lange weitgehend un­gereimte Sequenz mündet, während Cramer-Klett einige Reime mehr hinzufügt, um das im vielsilbigen Deutschen reduziertere Sprachtempo zu kaschieren.

Doch natürlich hat niemand dieses Buch wegen Barbara Brenners Versen übersetzen lassen, sondern Ungerers Bilder waren der Anlass. Sonst hätte man ja auch die 1994 erfolgte Neuillustration der Geschichte durch den Illustrator Mike Shennon zur Vorlage nehmen können, aber was wäre da an typisch ungererscher Virtuosität verpasst worden – allein der Jäger mit seinem Tropenhelm und dem Zwicker auf der Nase! Natürlich ist das ein Klischee, aber eines, das nebenbei den Kolonialismus kritisiert, ohne ihn verbal explizit zu machen. Ungerer zeigt einfach, was er sagen will, und darin bestand immer seine größte Zeichnerstärke; den Bildern ist durch Barbara Brenners Text schon zu viel an Worten beigegeben. Tomi Ungerer selbst konnte besser für sich schreiben – wenn auch ungereimt. Aber missen möchte man das neue alte Buch dennoch nicht.

Tomi Ungerer, Barbara Brenner: „Herr Groß und Herr Klein“. Aus dem amerikanischen Englisch von Anna Cramer-Klett. Diogenes Verlag, Zürich 2023. 32 S., Abb., geb., 20,– €. Ab 3 J.