Buch „Ich wäre gern ein Baum“ :
Klitzekleine Störmanöver im Schutzraum Baum

Lesezeit: 3 Min.
Vogelperspektive: vom Wipfel zu den Wurzeln
In dem Buch „Ich wäre gern ein Baum“ bringt die Zeichnerin Hannah Brückner die Kindheitsidylle der Autorin Andrea Hensgen in Bewegung.

Was ist so verlockend daran, ein Baum zu sein? Nun, Bäume wissen, wo sie hingehören. Sie haben das, was man einen angestammten Platz nennt. Ach, wäre ich ein Baum, dann könnte ich bleiben, wo ich bin, und hätte die ganze Welt in meinem Geäst. Dann gäbe es keine Entfremdung mehr, sondern nur noch Angestammtes; dann fielen Welt und Ich zusammen. Von dieser symbiotischen Erlösungsphantasie erzählt das Bilderbuch „Ich wäre gern ein Baum“.

Natürlich muss man erst aus etwas herausgefallen sein, um sich von dem Wunsch nach Ganzheit derart ergreifen zu lassen, dass die stabilitas loci zum Maß aller Dinge wird, der stabile Ort die Qualität einer Verheißung bekommt. Der Sturz aus dem Paradies, irgendeine Vertreibungserfahrung steckt in den Knochen beziehungsweise Ästen, wenn das Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit, nach Nestern und Höhlen, derart bestimmend wird. Das Kind, das sich in diesem Buch als Baum erträumt, auf Schutz angewiesen wie selbst auch Schutz spendend, dieses Baumkind lässt, wenn man so will, den mittelalterlichen Ordo-Gedanken im Sehnsuchtsort Baum Gestalt gewinnen: „Ich wäre gern ein Baum, ein großer, kräftiger Baum, würde fest in der Erde stehen, und niemand könnte mich von dort wegtragen.“

Bei sich sein bedeutet im Text, so lässt sich die Autorin Andrea Hensgen verstehen, eine uterale Geborgenheit, in psychoanalytischer Lesart eine Ersatzbildung in selbstschützender Absicht. Da wachsen „bergen“ und „verbergen“ auf demselben Holz, als Wunschwelt im Konjunktiv. Es sei beim Nestbau: „Vögel versteckten ihr Nest in meinen Zweigen, und keiner würde ihre Kleinen in meinem Laub entdecken.“ Es sei bei der Höhlenbildung: „In den Höhlen zwischen meinen Wurzeln lebte eine Mäusefamilie, tief verborgen in der dunklen Erde.“

Freigesetzte Welt

Das ist die Entzauberung des Aufbruchs, wie Andrea Hensgen sie erzählt. Ankommen, nicht aufbrechen erscheint als Inbegriff der migrantischen Lebenskunst. Hier, im schwankenden Geäst, sind sie alle immer schon da: ich, der Baum; meine kleine Schwester Mara, am dicksten Ast schaukelnd; mein großer Bruder Yaron, im Baumhaus schlafend; Mama und Papa, auf angestammter Bank sitzend: „An meinem dicken Stamm lehnte eine Bank für Mama und Papa, um miteinander allein zu sein und sich lieb zu haben.“

In dieser Gegenwelt zum Unbehausten geschieht nichts Widerständiges: Der Wind „streichelt“ durch die Blätter, und „kein Lärm weckte mich nachts“. Dass der Text nicht zum beschaulichen Bildchen gerät, zur Idylle, verdankt er zumal den ausdrucksstarken Bildern, die Hannah Brückner dazu gezeichnet hat. Sie sprengen den Ordnungsrahmen, in den sie gestellt sind. Im hohen Detailgrad ihrer Stilistik wird Welt nicht festgehalten, sondern freigesetzt.

Andrea Hensgen, Hannah Brückner: „Ich wäre gern ein Baum“. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2023. 32 S., Abb., geb., 18,– €. Ab 4 J.
Andrea Hensgen, Hannah Brückner: „Ich wäre gern ein Baum“. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2023. 32 S., Abb., geb., 18,– €. Ab 4 J.Peter Hammer Verlag

Es ist, als wolle die Illustratorin der erzählerischen Schließbewegung mit klitzekleinen Störmanövern eine Öffnung ins Weite geben. Raffiniert wird der Schutzraum Baum zeichnerisch mit allerlei Schabernack in Bewegung gebracht: Da hält ein Mäusepaar ein Wind­rädchen hoch, als der Wind sanft durch die Blätter streichelt; da wird die große Bank, auf der die Eltern Eintracht pflegen, durch eine Minibank am Fuß des Baumes konterkariert, auf der eine winzige Kaffeetasse steht; da erweist eine elektrische Hängelampe die Höhlenromantik der Mäusefamilie als surreal. Oder der subversive Strich, mit dem sich die Vogelperspektive auf den Baum darstellt. Hannah Brückner stellt diese gerade nicht zentral, sondern lässt sie in lauter lose dem Betrachter entgegenstürzende Einzelperspektiven zerfallen. Und hier ein Leiterchen und dort ein Pfeil und dahinten im Bild eine Minischnecke – viele unordentliche Details, die der waltenden Ordnungsidee des Buches den spielerischen Drive geben.

Ambivalenzen, die ins Herz treffen

Bis die Autorin selbst die Idylle hart durchbricht. Die Geschichte weitet sich am Ende zu einer Erfahrung von Bleibenwollen und Gehenmüssen. Da heißt es, nach all der Baumseligkeit einer gefundenen Beheimatung: „Aber morgen schon werden wir weiterziehen. In eine fremde Stadt, in eine andere Wohnung, weil wir von dort fort mussten, wo wir zuhause waren, Mama und Papa, Yaron Mara und ich.“

Die Illustratorin gestaltet diese ernüchternde Szene mit einem genialen Kunstgriff: Sie wechselt von der Farbe jäh ins monochrome Blaugrau und lässt das erzählende Kind aus dem weiterfahrenden Auto ins Weite schauen – mit einem nun doch zartgrün gezeichneten Ableger des Baums, im Blumentopf auf dem Schoß.

Das berührt die Seele. Tatsächlich war der Baum schon einmal zentrales Motiv bei Hannah Brückner, und zwar in dem von ihr erzählten und gezeichneten Bilderbuch „Mein fantastisches Baumhaus“. In diesem Erstlingswerk erscheint der Baum als Ort des Tumults und gerade nicht als Metapher des Angestammten. Die der Illustratorin Brückner so lieb gewordene Phantastik, ihr reflektierender Bilderwitz hat die Zusammenarbeit mit der Autorin Hensgen zu einem verlegerischen Glücksfall gemacht. „Ich wäre gern ein Baum“ ist ein spannungsgeladenes Buch, das in der Tiefe über unser Weltverhältnis nach­denken lässt.

Andrea Hensgen, Hannah Brückner: „Ich wäre gern ein Baum“. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2023. 32 S., Abb., geb., 18,– €. Ab 4 J.