Romanrezension Tessa Hadley :
Verrückte Liebe am vertrauten Ort

Von Lerke von Saalfeld
Lesezeit: 4 Min.
Die englische Schriftstellerin Tessa Hadley
Tessa Hadley lässt in „Das Jahr der Veränderungen“ drei Generationen in walisische Gefühlswirren geraten.

„Nein, es war kein Zeichen. Kate weigerte sich, darin ein Zeichen zu sehen.“ Ein Unfall auf der Straße war passiert, ein weißer Schwan flog in die Frontscheibe eines Autos. Aber nur zwei Seiten weiter, flucht Kate, die Fahrerin des einen Wagens: „Schöne Begrüßung daheim.“ Und betont noch einmal: „Nein. Das war kein Zeichen, das war der reine Hohn.“ Ein ­typischer Roman- oder Kurzgeschichtenbeginn für die britische Schriftstellerin Tessa Hadley, die 1956 in Bristol geboren wurde. Ein Rätsel tut sich auf, das erst spät und verschlungen gelöst wird.

Kate Flynn ist auf den Weg in ihren walisischen Heimatort Cardiff. Als Dozentin an einer Londoner Universität will sie ein Jahr pausieren, um ihre kranke dreiundachtzigjährige Mutter Billie zu pflegen. Diese wohnt noch immer in demselben Haus, in dem sie geboren wurde, und wo auch ihre Tochter aufgewachsen ist. Villa Firenze wurde das prachtvolle alte Gemäuer genannt, so hatte es der polnisch-jüdische Großvater, aus Vilnius stammend, angeordnet. „Die Villa Firenze war ein düsterer Bau aus rotem Backstein, der neben dem See auf einer Anhöhe stand, mit steilem Vorgarten, durch den sich der Weg von der Straße aus im Zickzack durch einen weitläufigen Steingarten bergauf wand . . . Sehr alt, sehr ungewöhnlich, ein bisschen Cardiffer Geschichte. Der Großvater muss eine Menge Geld gehabt haben, aber das meiste haben sie wohl mittlerweile ausgegeben, sie haben überhaupt nichts verändert, die könnten da glatt ein Museum draus machen.“

Das Haus wirkt anziehend und abstoßend zugleich. Alle am Ort sind neugierig, es von innen kennenzulernen. Die beiden Bewohnerinnen haben sich in wenige Zimmer zurückgezogen, der Rest des Hauses steht leer. „Die Einrichtung des Salons war schon in den siebziger Jahren altmodisch gewesen: eine Art helle Silbertapete, ein Kronleuchter, Aquarelle und Stillleben, ein kleiner Stutzflügel, riesige Polstersessel, zierliche Beistelltische. Mittlerweile wirkte die Tapete schäbig, in einer Ecke gab es feuchte braune Flecke, und der Teppich war verschossen; die Sessel waren durchgesessen, die Federung war kaputt, und an den Armlehnen, war die ausgeblichene Seide abgewetzt, sodass das Füllmaterial durchkam. Doch trotzdem hatte alles irgendwo noch Anmut.“

Das feine Stilgefühl in engen Kreisen

In diesem morbiden Ambiente lässt Tessa Hadley ihre Figuren ein Jahr lang tanzen. Die kränkelnde, aber kokette Mutter Billie, ihre Tochter Kate, die Ruhe vor dem Berufsalltag sucht, und deren ­Jugendfreundin Carol stehen im Mittelpunkt. Darum herum all die alten Freunde, die den Ort nie verlassen haben, durch frühere Liebes- und Freundschaftsbande mit der Villa verbunden sind. Die Autorin liebt Familien- und Freundesgeschichten, die kanadische Schriftstellerin Alice Munro ist ihrem Schreiben sehr nahe, realistisch unaufgeregt, vermischt mit hintersinnigem Humor und eine Meisterin der Kurzgeschichten im familiären Milieu. Mit feinem Stilgefühl dreht sich das Leben ihres Romanpersonals in engen Kreisen. Es ist der dritte Roman der Autorin, im Original 2007 in Großbritannien erschienen und wunderbar zu lesen – die Übersetzerin Christa Schuenke hat einen eleganten und schlanken Ton für ihre Übertragung ins Deutsche gefunden.

Erst spät hat Hadley zu schreiben begonnen, in ihren Vierzigern. In einem Interview erklärte sie: „Ich bin so froh, dass ich nicht mit 25 Jahren meinen Debütroman veröffentlicht habe.“ Sie hat sich als Mutter von sechs Knaben überlegt Zeit gelassen. Einer Reporterin, die etwas über ihr nächstes Buch wissen wollte, erklärte Hadley zur Methode ihres Schreibens, sie stelle sich nur zwei Fragen. „What happened? And what happened next?“

Das Cover zu Tessa Hadleys „Das Jahr der Veränderungen“
Das Cover zu Tessa Hadleys „Das Jahr der Veränderungen“Verlag

Im „Jahr der Veränderungen“ ereignen sich kleine und große Liebesaffären, mal werden sie durchschaut, mal werden sie nur geahnt, mal bleiben sie geheim. Das große Ereignis ist die entstehende Liebe, – un amour fou – zwischen der dreiundvierzigjährigen Kate und dem siebzehnjährigen Jamie, einem Sohn des früheren Freundes David, den aber Kate nun auch von Neuem zu lieben versucht. Das Leben ist verwickelt. Die eine Liebe darf nicht sein, weil das Alter nicht stimmt, die andere Liebe ist verstellt durch eine Ehefrau. Die betagte Billie betrachtet alles mit Amüsement. Sie hat ihre wilden Zeiten hinter sich, aber auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten spielt sie noch munter mit, provoziert die jüngeren Frauen und umgarnt die Männerwelt.

Ein Museum, in dem keiner leben möchte.

Dann kommt der jähe Einschnitt: Billie stirbt unerwartet an einem Schlag­anfall. Das Zentrum, die Villa Firenze, steht zum Verkauf, denn Kate will sie nicht bewohnen. Die Familiengeschichte löst sich im übertragenen wie im realen Sinn auf, Stück für Stück. Der alte Glanz ist ver­blichen, jetzt kann es jeder sehen: „Die Räume waren durchweg trostlos und vernachlässigt . . . In feuchten Ecken rotteten Papiere vor sich hin; der Holzwurm hatte sich in den Möbeln bis in die Dielen durchgefressen; im oberen Geschoss, da, wo das Dach undichte Stellen hatte, rochen die Teppiche modrig. Kate kramte Sachen aus Schubladen und Schränken . . . – ein Bündel Briefe ihrer Eltern, eine Teekanne aus Porzellan, schwarz angelaufene Silberbestecke und eine Menora, Arme voll feuchter Notenblätter, Dünndruckbände in Hebräisch mit Stichen ehrwürdiger rabbinischer Gelehrter auf dem Frontispiz, fast hundert Jahre alte Dankschreiben an Kates Großmutter, weil sie Geld gespendet hatte für die Zionisten, stockfleckige weiße Damasttischdecken, die Geige ihres Vaters mit gerissenen Darmsaiten.“

Ein Museum tut sich auf, in dem keiner leben möchte. Das Haus ist von vielen Toden gezeichnet. Kate will alles hinter sich lassen, sie sucht die Freiheit und ­frische Luft zum Atmen. Sie bemerkt erschrocken etwas Neues, will nicht er­tragen, was nicht sein darf, und entschließt sich, nach Amerika auszuwandern. Das andere Zeichen, mit dem der Roman seinen Anfang nimmt, erfährt eine Klärung, löst auf geheimnisvolle Weise gleich mehrere Konflikte auf. „What happened?“ Das bleibt der ge­spannten Neugier des Publikums überlassen.

Tessa Hadley: „Das Jahr der Veränderungen“. Roman.
Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Kampa Verlag, Zürich 2024. 368 S., geb., 25,- €.