Russland verbietet Sorokin :
Moskauer Verlag zieht den Roman „Das Erbe“ zurück

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Vladimir Sorokin
De-facto-Zensur eines kremlnahen Expertenzentrums: Russischer Verlag AST zieht Vladimir Sorokins jüngsten Roman „Das Erbe“ zurück. Zuvor hatten Nationalisten, Klerikale und eine Schriftstellerin das Verlagshaus denunziert.

In Russland hat ein neues Expertenzen­trum für Bücher durch seine Empfehlungen erreicht, dass der Großverlag Eksmo-AST den jüngsten Roman von Vladimir Sorokin „Das Erbe“ (Nasledie) sowie zwei aus dem Englischen übersetzte Titel, „Ein Zuhause am Ende der Welt“ von Michael Cunningham und „Giovannis Zimmer“ von James Baldwin, nicht mehr verkauft. Das Zentrum, das in die Verlagsvereinigung „Russische Buchunion“ installiert wurde, besteht aus Vertretern der Medienaufsichtsbehörde Roskom­nad­sor, der offiziösen Russischen Geschichtsgesellschaft und der Militärhistorischen Gesellschaft, der Rus­sisch-Or­tho­do­xen Kirche, der Geistlichen Organisation Russischer Muslime und anderen Gremien. Seine Experten prüfen, ob Buchpublikationen mit der russischen Gesetzgebung konform sind. Im Fall der Romane von Baldwin und Cunningham dürfte die Thematik von Homosexualität Anstoß erregt haben. Bei Sorokin, der in eine dystopische Zukunft Russlands versetzt, werden zudem Gewaltexzesse geschildert, auch an scheinbaren (freilich zwanzig Jahre alten) Kindern.

AST habe um den im vorigen November erschienenen Roman „Das Erbe“ gekämpft, sagt Sorokin der F.A.Z. am Telefon. Der Verlag habe eine unab­hän­gige Expertise in Auftrag geben wollen. Doch ultranationalistische Organisationen wie die militante Kirchenbewegung „Sorok sorokow“ und die Verfolger kritischer Popmusiker von „Ruf des Volkes“ (Sow naroda), aber auch die den Ukrainefeldzug befürwortende Autorin Olga Uskowa hatten AST wegen des Romans denunziert. Das Innenministerium habe auf den Verlagsleiter Druck ausgeübt, dem er sich schließlich beugte, sagt Sorokin. Immerhin sei die Startauflage von 20.000 Exemplaren fast vollständig verkauft.

Der Panzerzug nutzt Menschen als Treibstoff

„Das Erbe“ vollendet eine Trilogie, die mit dem „Schneesturm“ einsetzte, worin ein Arzt sich in einer mittelalterlich-hochtechnologischen russischen Winterlandschaft verirrt, und von dem unlängst auf Deutsch herausgekommenen „Doktor Garin“ mit dessen weiteren Abenteuern fortgesetzt wird. Im dritten Buch ist Russland in Teilregionen zerfallen, wo Riesen und Zwerge mit normalgroßen Menschen koexistieren, eben­­­so wie archaische Rituale und Orgien mit Gentechnik und Atombomben. Zerfallen ist auch die russische Sprache, die Figuren reden in einer Mischung aus lokalen Dialekten, Neologismen, Archaismen und chinesischen Lehnwörtern. Eine Verbindung der Regionen stiftet ein transsibirischer Panzerzug, der marodierende Partisanen abwehrt, aber Menschen als Treibstoff verbraucht, die im letzten Waggon umgebracht, zuvor aber noch gefoltert werden. Staatssicherheitsleute sortieren die buchstäblich zu verheizenden Renegaten aus, un­ter ihnen ein Autor satirischer Gedichte. Assoziationen zu gegenwärtigen russischen Repressionen und Gewaltorgien drängen sich auf, auch etwa wenn ein Heizer mit Vorschlaghammer den Unglücklichen die Köpfe zertrümmert. Der Text dürfte sich daher auch der „Russophobie“ schuldig machen.

Russland habe ein Rad der Unterdrückung in Gang gesetzt, das nach Politikern und Dissidenten nun immer mehr Künstler erfasse, die Kultur zerstöre und Angst verbreite, sagt Sorokin. Dieses Rad sei zudem eine Zeitmaschine, die das Land und auch ihn selbst in die von Präsident Putin verklärte Sowjetepoche zurückversetze. Sorokin, der seine Schriftstellerkarriere als Samisdat-Autor begann, glaubt, da die Staatsmacht seine Texte für gefährlich befinde, seien sie wohl aktuell. Russische Leser werden „Das Erbe“ künftig auf dem Schwarzmarkt oder in Antiquariaten suchen müssen.