Ewald Frie und Steffen Mau :
Danke für Ihre Arbeitsprobe!

Von Martin Otto
Lesezeit: 4 Min.
So ein Bonanza-Rad hätte auch in Ewalds Fries Dorf im Münsterland mächtig etwas her gemacht. Wie es nach Lütten Klein geschmuggelt wurde, dem Rostocker Neubaugebiet, in dem Steffen Mau aufwuchs, müsste die Mikrohistorie noch erforschen. Das Foto entstand ungefähr 1977, als Steffen Mau neun und Ewald Frie fünfzehn Jahre alt war.
Wie zwei Autoren autobiographischer Sachbuchbestseller ihre begeisterten Leser erleben: In Essen treffen der Historiker Ewald Frie und der Soziologe Steffen Mau zusammen.

Das Kulturwissenschaftliche Institut liegt im Essener Stadtteil Rüttenscheid, südlich der Innenstadt, gemäß der Orientierung an längst nicht mehr rauchenden Fabrikschloten die bevorzugte Wohngegend einer Ruhrgebietsstadt. Der Vortragssaal ist bis zum letzten Platz gefüllt. Die Direktorin, die Anglistin Julika Griem, kann sich nicht erinnern, den Saal je so gut besetzt gesehen zu haben. Das Publikum ist erkennbar akademisch, aber doch etwas anders als bei Vorträgen an solchen Instituten üblich. Die beiden Referenten, Griem nennt sie „zwei gelungene Exemplare des deutschen Professors“, sind sich zuvor noch nie begegnet, in den Bestsellerlisten der Sachbücher lagen sie dagegen sehr dicht beieinander. Es ist also ein echtes literarisches Gipfeltreffen, das hier in Form eines Gesprächs zwischen dem Tübinger Neuzeithistoriker Ewald Frie und dem Berliner Makrosoziologen Steffen Mau stattfindet.

Die Fachgebiete der beiden Wissenschaftler verheißen nicht unbedingt eine über die eigene Zunft hinausgehende Leserschaft, aber ihre Bücher, mit denen sie ein Publikum weit jenseits der „Akademia“ erreichten, brauchen hier niemandem vorgestellt werden. Steffen Mau legte 2019 mit „Lütten Klein“ (Suhrkamp) eine soziologische Studie über das „Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ vor, Ewald Frie 2023 mit „Ein Hof und elf Geschwister“ (Beck) eine historische Untersuchung über den „stillen Abschied vom bäuerlichen Leben“ in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Die Autoren haben aus einer stark subjektiven, nämlich autobiographischen Perspektive geschrieben und diese auch offen benannt; die Literaturwissenschaftlerin Griem nennt sie deshalb Wissenschaftler, die gewagt hätten, „ich zu sagen“.

Es ist keine Unverschämtheit mehr

Dass der lange unvermeidbare Verweis auf das berühmte Adorno-Zitat aus den „Minima Moralia“ („Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie ich sagen“) in diesem theorieaffinen Umfeld ausbleibt, ist vielleicht auch Zeichen für einen sozialwissenschaftlichen Paradigmenwechsel. Griem spielte auf die im deutschen Sprachraum bei wissenschaftlichen Publikationen ungeschriebene Regel an, die erste Person zu vermeiden. Mau und Frie haben ihre Biographie nicht hinter der scheinbar objektiven dritten Person versteckt. Mau ist im „Windmühlenhaus“, einem für ungefähr 500 Bewohner angelegten Plattenbau im namensgebenden Rostocker Stadtteil „Lütten Klein“ als Sohn eines leitenden Werftmitarbeiters und einer Ärztin aufgewachsen, Frie auf einem seit Generationen von seiner katholischen Familie bewirtschafteten Bauernhof mit zehn Geschwistern im westfälischen Nottuln.

Sortiermaschinen kennt er vom elterlichen Hof: Ewald Frie im September 2023 als Besucher im Stall eines Biobauern in Rottenburg.
Sortiermaschinen kennt er vom elterlichen Hof: Ewald Frie im September 2023 als Besucher im Stall eines Biobauern in Rottenburg.Philipp von Ditfurth

So unterschiedlich die Biographien, so ähnlich die Erfahrungen, die beide mit ihren Lesern machten. Erstmals wurden sie von einem durchaus lesefreudigen, aber außerhalb ihrer zuweilen sehr theorielastigen Fachgebiete angesiedelten Publikum wahrgenommen, und erstmals vernahmen sie, was im akademischen Betrieb ganz selten vorkommt, wo eher das „Suchen nach Fehlern“ (Frie) die Regel ist, für ihre Bücher in vielen Formen das Wort „Danke“. Der Karikaturist Manfred Schmidt zeichnete 1950 in der ersten Folge seines in Fries Kindheit populären Detektivcomics „Nick Knatterton“ mit der für ihn typischen Ironie Regale mit „Aktenordnern voller Dankschreiben“; für Mau und Frie ist dies seit einiger Zeit Realität, wobei der digitale Dank noch umfangreicher ausfällt.

Viele Leser, die Kindheit und Jugend auf dem bundesdeutschen Bauernhof oder im DDR-Plattenbau verbracht hatten, fühlten sich erstmals wahrgenommen, als hätten ihnen die beiden Geisteswissenschaftler eine Stimme gegeben. Auch in Essen erhebt sich ein jüngerer Mann, phänotypisch der von Sentimentalitäten freie Intellektuelle, um Frie im Namen seiner Mutter, „Tochter westfälischer Bauern“, zu danken. Dabei betonen Frie und Mau übereinstimmend, dass dem Gros ihrer Leser der Auszug aus dem Bauernhof oder der Plattenbausiedlung, die in der DDR sei, wie Mau bemerkt, niemand so nannte, bestens gelungen sei: in der Fachsprache der Soziologen ein „erfolgreicher Transformationsprozess“

Das Schokoladenproblem, klassische Frage der distributiven Gerechtigkeit, würde dem Makrosoziologen keine Bauchschmerzen bereiten: Steffen Mau am 22. Oktober 2021 als Gast der F.A.Z. auf der Frankfurter Buchmesse.
Das Schokoladenproblem, klassische Frage der distributiven Gerechtigkeit, würde dem Makrosoziologen keine Bauchschmerzen bereiten: Steffen Mau am 22. Oktober 2021 als Gast der F.A.Z. auf der Frankfurter Buchmesse.Marie-Luise Kolb

Des Jargons ihrer Disziplinen hatten sich beide Autoren allerdings in ihren Büchern enthalten. Mit dem Begriff „Aufsteiger“ haben die unprätentiös auftretenden Gelehrten ihre Probleme. Mau betont, man könne auch gut leben, „ohne ein deutscher Professor zu sein“, Frie spricht von einer Frage der Perspektive. Vergleiche er seine soziale Position mit einem Landwirt, der gegenwärtig 25 Hektar bewirtschaftet, sei es wohl ein Aufstieg, vergleichen mit der Position, die sein Vater als grundbesitzender Bauer im heimischen Dorf besaß, eher nicht.

Beide Autoren verdanken ihren Erfolg allerdings auch ihrer erzählerischen Begabung, die im akademischen Betrieb nicht immer auf Gegenliebe stößt, insbesondere bei Kollegen; Julika Griem spricht von Neid und der „Feuilletonismuskeule“. Mau, der auch den Schriftsteller Lutz Seiler erwähnt, hat sein Buch sogar mit einer kleinen Eloge auf den Rostocker Schriftsteller Walter Kempowski begonnen. Die Wissenschaftler wollen an diesem Abend die Grenze zwischen Literatur und Sachbuch nicht aufheben, wenn auch Mau, der auch soziologisch zu Grenzen forscht, eine „wissenschaftliche Redlichkeit“ der Ich-Perspektive mit der Vermeidung von Peinlichkeit korrelieren möchte.

Manche Grenzziehungen sind im Rückblick kaum nachvollziehbar, das gilt nicht nur für Bücher. Ewald Frie, in der Moderation grenzübergreifend zum Mitglied der „Heidelberger Akademie der Künste“ (richtig: Wissenschaften) gemacht, erzählt, sein Vater habe andere Landwirte nach zwei sehr objektiven Kriterien eingeteilt: nach der Hektarzahl und ob sie Lehm- oder Sandböden beackerten. „Leuten, die auf Sand ackern, ist nicht zu trauen.“ Damit sei sein Vater aber gut durchs Leben gekommen.