Bernhard Waldenfels 90 :
Antworten, die es in sich haben

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Was schwingt nicht alles in einer mit Bedacht aufgetragenen Schicht Nutella mit? Bernhard Waldenfels bei der morgendlichen Arbeit.
Er erforscht, was im Gesagten mitgesagt wird, und drückt sich deshalb so genau wie möglich aus: Der Bochumer Philosoph Bernhard Waldenfels feiert seinen neunzigsten Geburtstag.

Bernhard Waldenfels ist nicht gut auf Hartmut Rosa zu sprechen, den viel schreibenden Resonanztheoretiker. Der Bochumer Philosoph hält dem Jensenser Soziologen kontaminierte Begriffe vor, Metapherngewölk, um es sauber auszudrücken. Unter Kontamination versteht man eine biologisch-chemische Verunreinigung, in der Sprachwissenschaft auch die Vermengung von Wörtern, Wendungen, die zu einer neuen Form zusammengezogen werden, beliebtes Beispiel: „Gebäulichkeiten“ aus „Gebäude“ und „Baulichkeiten“. Sowie eben – für Waldenfels das größte anzunehmende Ärgernis – metaphorisches Sagen, die ständige Rücknahme des Gesagten, das so eigentlich dann doch nicht gemeint gewesen sein soll.

Von Haus aus ist Waldenfels die Resonanzfigur nicht etwa fremd, die es mit Schwingungen hinter der Wortwörtlichkeit zu tun hat. Wer sich wie er ein Leben lang mit dem Antwort-Charakter des In-der-Welt-Seins beschäftigt hat, siehe sein Kreisen um die Responsivität schon im Buch „Antwortregister“ (1994), der kennt sich aus im Bedeutungsfeld und antwortet (unterschieden von „reagiert“ im behavioristischen Sinne) gerade deshalb zurückhaltend auf Rosas ausufernde Widerhall-Theorie im Zeichen der Resonanz. In seinem Buch „Erfahrung, die zur Sprache drängt“ (2019) merkt Waldenfels treffsicher zu Rosa an: Dass dieser Resonanz als ausschließlich „physikalisch-musikalische Metapher“ verstehe, erkläre „das hohe Maß an abschwächenden Anführungszeichen, vor denen schon Adorno in seinen stilkritischen Noten zur Literatur gewarnt hat“.

Das Sagen im Gesagten

Gerade weil die phänomenologische Methode des Philosophen Waldenfels zwischen Sagen und Gesagtem unterscheidet, er ein Sagen ohne Gesagtes (plappern; reden, um nichts sagen zu müssen) ebenso untersucht wie ein Gesagtes ohne Sagen (etwa bei maschinellen Übersetzungsvorgängen), ist es ihm um die Sauberkeit der Begriffswerkzeuge zu tun: „Im Lichte eines laxen, oftmals vag metaphorischen Sprachgebrauchs, der sich einzubürgern beginnt, sieht es so aus, als wären Response und Resonanz ungefähr dasselbe.“ Dies aber sei mitnichten der Fall. Man kann das selbst nicht mitteilbare Sagen im Gesagten analytisch nur treffen, wenn die Beschreibung nicht ins Metaphorische ausweicht, wenn sie begriffssicher Responsen angibt, sprachliche Bezugnahmen auch im Verborgenen, statt unterschiedslos alle Interaktion als Schwingungsgeschehen zu verwischen. Er für seinen Teil begnüge sich damit, erklärt Waldenfels, der sachlichen Frage nachzugehen, ob und wieweit Response und Resonanz, ungeachtet ihrer Verschiedenheit, einander ergänzen und befruchten können.

Und der damit erzielte Erkenntnisgewinn im unwegsamen Gelände jenseits der Wortwörtlichkeit des Gesagten ist enorm. Denn was wird im Gesagten alles mitgesagt! Dazu gehört, so legt Waldenfels in seinem jüngsten Buch „Globalität, Lokalität, Digitalität“ (2022) so detailliert wie genau dar, zu diesem Mitgesagten gehört „das sotto voce Mitgesagte, der Ton, der die Musik macht, das indirekt Gesagte in ironischen Anspielungen, aber auch das höfliche Zurückhalten oder das Verschweigen“. Das Mitgesagte umfasse schließlich mannigfache Zwischentöne, Pausen in der Rede, das Zögern im Ablauf, womit der Redefluss sich der Melodik annähert.

Erst im neunten Lebensjahrzehnt hat Waldenfels in einer nachdrücklichen und vertieften Zusammenschau über das ihn immer schon beschäftigende Verhältnis von Phänomenologie und Psychoanalyse Auskunft gegeben, über das Verbindende von Edmund Husserl und Sigmund Freud, wie es die Werke von Waldenfels durchzieht. Er stellt diese Synopse an in dem genannten, vor fünf Jahren publizierten Buch „Erfahrung, die zur Sprache drängt“, das den Untertitel trägt „Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht“. Dort heißt es eingangs: „In den folgenden Untersuchungen soll es weniger darum gehen, herauszufinden, wer Husserl oder Freud waren, in welchem sozialen Umfeld und unter welchen Umständen ihr Wirken sich vollzog; dies ist weitgehend erforscht. Vielmehr werden wir uns fragen, wofür ihre Namen heute noch stehen, und diese Frage lässt verschiedene Antworten zu.“

Am Leitfaden des Fremden

Der Antwortraum, den Waldenfels dann vermisst, ist der Raum seines Lebenswerks. Am Leitfaden des Fremden, „das ich seit langem in zahlreichen Schriften vielfach hin und her gewendet habe“, werden die biographischen Annäherungen an die Psychoanalyse beschrieben, dabei vom Unbewussten als einer besonderen Form des Fremden ausgehend, die wiederum im leiblichen und zwischenleiblichen Verhalten fassbar wird. Husserl und Freud, Phänomenologie und Psychoanalyse, werden im gemeinsamen Zugriff der Epoché, der radikalisierten Urteilungsenthaltung, miteinander verglichen. Damit soll Selbstverständliches in die Schwebe versetzt, Vertrautes verfremdet werden, um es prüfen und analysieren zu können. Die grundlegende Frage lautet für Waldenfels dann nicht mehr hermeneutisch-normativ: Auf welchen Sinn ist unser Verhalten gerichtet und nach welchen Regeln richtet es sich? Sondern: „Wovon sind wir leibhaftig getroffen und worauf antworten wir, wenn wir uns in bestimmter Weise zur Welt und zur Mitwelt äußern und verhalten?“

Damit schreitet Waldenfels einen Weg aus, der für ihn über Frankreich begonnen hat. Zunächst waren es Maurice Merleau-Ponty und Paul Ricœur, bei denen er in den frühen Sechzigerjahren nach Abschluss seiner Münchner Promotion über das sokratische Fragen weiterstudierte. Unter den ihn begleitenden französischen Denkern (darunter natürlich Emmanuel Lévinas, Jacques Derrida, Michel Foucault, Jacques Lacan) wurde insbesondere Jean Laplanche für den responsiven Ansatz wichtig. Bereits 1983 dokumentierte Waldenfels in dem 1998 mit einem Nachtrag wiederaufgelegten Band „Phänomenologie in Frankreich“ die breite Wahrnehmung der Psychoanalyse in der französischen Phänomenologie und die gleichzeitige Rezeption der Phänomenologie in der französischen Psychiatrie und Psychoanalyse. Es ist diese Genealogie, von der sich Waldenfels bei der Ausarbeitung seiner responsiven Phänomenologie des Fremden entscheidend leiten ließ.

Es liest sich denn auch wie eine gültige Rückschau auf ein großes Œuvre, wenn Waldenfels, von der momentanen Konjunktur des Resonanz herausgefordert, prägnant begründet, warum er Rosas im Zentrum der Weltbeziehung platzierte Denkfigur für eine Fehlbesetzung hält, und programmatisch festhält: „Im Gegenzug zu einer vagen Metaphorisierung und einer normativen Überfrachtung dieses Konzepts wird unterschieden zwischen anspruchsgerechten Antworten, die man gibt oder verweigert, und Resonanzen, die sich ausbreiten, immer wenn etwas in Schwingung gerät.“ Am heutigen Sonntag wird Bernhard Waldenfels neunzig Jahre alt.