Alois M. Haas 90 :
Schwärmer hält er sich vom Leib

Von Oliver Jungen
Lesezeit: 4 Min.
Seine private wissenschaftliche Bibliothek hat die Größe eines eigenen Instituts; vierzigtausend Bände hat er bereits einer Spezialbibliothek in Barcelona geschenkt: Alois Maria Haas im Arbeitszimmer seines Hauses in Uitikon.
Dieser Bäckersohn kennt alle Zutaten zum seligen Leben: Dem Schweizer Mystikforscher Alois M. Haas ist der seltene Brückenschlag zwischen Wissenschaft und öffentlicher Wirksamkeit gelungen. Heute wird er neunzig Jahre alt.

Und immer lockt der Leib. Die Unio mystica mit dem ganzen Körper zu vollziehen, und sei es im Traum, dieser sinnlich fromme Wunsch hat die Frauenmystik des Spätmittelalters geprägt. Lange Zeit wurde er theologisch abgewertet oder gar vulgär-freudianisch erklärt. Der wohl beste Kenner der Deutschen Mystik von Meister Eckhart bis Hildegard von Bingen und Margareta Ebner, Alois M. Haas, hat sich jedoch immer vor diese auch literarisch originelle Tradition gestellt.

So heißt es in seinem vielgelesenen Buch zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter („Gottleiden – Gottlieben“, 1989): Der „Nonnenmystik mit ihren ‚praktischen‘, d.h. sinnen- und erscheinungshaften Implikationen“ müsse die Möglichkeit „einer grundsätzlichen theologischen Richtigkeit“ schon deshalb eingeräumt werden, weil diese Dimension der Körperlichkeit bereits in der purem Spiritualismus zuwiderlaufenden Idee der Inkarnation Jesu Christi angelegt sei. Einen Reflex darauf, dass „der Leib also zugunsten der Seele mitauferweckt ist“, stellt sogar noch die liturgische Bezugnahme auf das ultimative Gottesgeschenk in Form von Brot und Wein dar. Das Inkorporieren des Heiligen ins Sündige ist seit Jahrhunderten nicht bloße Kopfarbeit, sondern auch ein Geschmackserlebnis.

Dass der Schweizer Mediävist kein Problem mit der sinnlichen Komponente des Glaubens hat, liegt vielleicht nicht nur daran, dass er eucharistische und mystische Corpus-Konzepte zwischen Paulus und der Scholastik im Detail untersucht hat. Es könnte zumindest auch durch den alle stupende Gelehrsamkeit transzendierenden Umstand begünstigt worden sein, dass Haas im ganz konkreten Sinne vom Brot her kommt. Als Bäckerssohn ist er aufgewachsen im Aroma der Backstube: schon für sich eine kleine Epiphanie, zumal in Zeiten des Hungers. Bereits die aus Schwaben eingewanderten Großeltern buken und verkauften in Zürich dunkles Brot, hat Haas jüngst der „Neuen Zürcher Zeitung“ erzählt. Zuvor habe man in der Schweiz nur weißes gekannt. Aufgewachsen seien er und die übrigen Kinder im liberalen Zürcher Umfeld „wie wilde Tiere“: „Wir machten, was wir wollten.“

Parzivals aufgewertete Tumbheit

Solche Unabhängigkeit, solcher Eigensinn kennzeichnet auch die wissenschaftliche Karriere von Alois Maria Haas, die an den Universitäten von Zürich, Berlin, Paris und München begann. Den Postdoc führte es nach einer Dissertation über „Parzivals tumpheit“ (Haas erkannte in der Aufwertung des illiteraten „homo simplex“ ein neues ritterliches Selbstbewusstsein und eine neue religiöse Innerlichkeit) im Jahr 1969 für zwei Jahre an die McGill University in Montreal. Nach der Habilitation über die Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, Johannes Tauler und Heinrich Seuse hatte er bis zur Emeritierung einen Lehrstuhl für ältere deutsche Literaturgeschichte in Zürich inne.

Das ist die Kraft der Pflanze, in Schriftform als bittere Medizin verabreicht: An Kaiser Friedrich Barbarossa schrieb Hildegard von Bingen (rechte Seite Mitte), dass er ihr in mystischer Schau wie ein Kleinkind und wie jemand mit dem Lebensstil eines Wahnsinnigen vor die lebendigen Augen trete. Möglicherweise kritisierte sie damit, dass der Kaiser im Jahr 1164 zum zweiten Mal einen Gegenpapst eingesetzt hatte. Die Abschrift der Briefsammlung der Äbtissin entstand im Kloster Mazières in Burgund und liegt heute in der Berliner Staatsbibliothek.
Das ist die Kraft der Pflanze, in Schriftform als bittere Medizin verabreicht: An Kaiser Friedrich Barbarossa schrieb Hildegard von Bingen (rechte Seite Mitte), dass er ihr in mystischer Schau wie ein Kleinkind und wie jemand mit dem Lebensstil eines Wahnsinnigen vor die lebendigen Augen trete. Möglicherweise kritisierte sie damit, dass der Kaiser im Jahr 1164 zum zweiten Mal einen Gegenpapst eingesetzt hatte. Die Abschrift der Briefsammlung der Äbtissin entstand im Kloster Mazières in Burgund und liegt heute in der Berliner Staatsbibliothek.Wikimedia Commons / CC0 1.0

So geradlinig das aussieht, so ungewöhnlich war es doch, aus der Handwerkssphäre zum renommierten Professor aufzusteigen. Doch wer von Kindheit an um zweierlei Sorten Brot weiß, kann leicht zur Überzeugung gelangen, dass es neben dem sättigenden weißen noch ein dunkles geben muss, das den Geist nährt. Unterstützt wurde diese Einsicht von den Patres der Klosterschule Engelberg, in der sich der Zögling pudelwohl fühlte. Noch heute lobt Haas das offene Klima, in dem es etwa „völlig normal“ gewesen sei, Nietzsche zu lesen.

Im Rückblick scheint es sogar so, als habe er für diese Sorte Nahrung sogar eine eigene Backstube errichtet: Gut drei Dutzend Bücher und Editionen sind daraus hervorgegangen, viele davon Standardwerke zu den großen Mystikern und zum christlichen Denken. So sehr nämlich Haas Nikolaus von Kues dafür bewundert, „den Weisheitsbegriff von seiner mystischen Verengung her so aufzubrechen, dass das Weltwissen wieder Eingang findet“, so wenig dürfte er die Botschaft von dessen „Idiota“-Schriften (um 1450) teilen, in denen ein Laie gegen alle scholastische „auctoritas“ die Weisheit allein aus dem lebendigen Geist des Menschen (mens) herleitet. Es braucht für den Vielleser Haas durchaus das „Bücherfutter“.

Die Einbettung in Kulturen und Kontexte

Die christliche Mystik bildete zeitlebens das Schwerkraftzentrum der Forschungen von Haas, und im Zentrum des Zentrums stand die Gott- und Selbstsuche Meister Eckharts. Dennoch griff er weit aus: hier auf den Neuplatonismus, dort bis zu Nietzsche und zum Zen-Buddhismus. Mystik war für Haas freilich immer „Mystik im Kontext“, so der Titel einer weiteren wichtigen Aufsatzsammlung (2004), was sich zuvörderst gegen den Perennialismus eines Robert Forman richtete, der in mystischen Erfahrungen aller Religionen dasselbe Grundmuster erkennen mochte.

Für Haas hingegen ist gerade die Einbettung in Kulturen und Kontexte entscheidend, und so gilt es, die tradierten Zeugnisse historisch und literaturgeschichtlich zu erschließen. Das hat er so umfassend und anregend getan wie kaum jemand sonst. Seine private wissenschaftliche Bibliothek hat die Größe eines eigenen Instituts; vierzigtausend Bände hat er bereits einer Spezialbibliothek in Barcelona geschenkt.

Durch die Betonung der Alterität mittelalterlicher religiöser Konzepte hielt sich Haas zudem neoesoterische Schwärmer vom Leib, obwohl er natürlich weiß, dass bei Eckart und Konsorten „das Befremdliche, Extreme den Reiz einer möglichen Nähe suggeriert“ (und dass darin durchaus eine Qualität dieser Texte liegt). Viele Texte von Haas sind von solcher Komplexität, dass ihre Lektüre zumindest ein Mediävistikstudium zu fordern scheint. Und doch ist diesem Gelehrten der seltene Brückenschlag zwischen Wissenschaft und öffentlicher Wirksamkeit gelungen.

Ob in Interviews und Zeitungsbeiträgen, ob durch eine gemeinsam mit Thomas Binotto verfasste Einführung zu Meister Eckhart (2013) oder eine erfrischend persönlich erzählte „Geschichte der Mystik“ auf drei CDs („Mein Geist hat sich verwildet“, 2021): Alois M. Haas, der heute neunzig Jahre alt – respektive weise – wird, backt auch auf dem Gebiet des praktischen Mystikverständnisses, wo viele Scharlatane unterwegs sind, die knusprigsten Brötchen.